INTERVIEW
: „Das Problem ist nicht irgendein Gesetz, sondern die Glaubwürdigkeit“

■ Luiz Ignacio Lula da Silva, Führer der oppositionellen Arbeiterpartei (PT) in Brasilien, der 1989 knapp die Präsidentschaftswahl verlor, führt heute in den Meinungsumfragen

taz: Präsident Fernando Collor de Mello hat jüngst dem Kongreß gedroht, daß Brasilien in den Abgrund stürzt, wenn die Verfassung des Landes nicht geändert wird. Ist dies eine echte Drohung?

Lula: Dies ist lediglich ein Beweis für die psychologische Unausgeglichenheit des Präsidenten. Collor muß sich an die brasilianische Realität anpassen. Sein Problem ist, daß er zunehmend die Unterstützung derjenigen verliert, die ihn aus Angst vor mir vor eineinhalb Jahren unterstützt haben. Diese Parlamentarier haben jetzt die moralische Pflicht, sich hinter ihn zu stellen.

Existiert die Gefahr eines Staatsstreiches?

In Lateinamerika ist alles möglich. Wenn alle Verhandlungen mit dem Kongreß scheitern und das Land wirklich kurz vor dem Abgrund steht, hat die Legislative das Recht, das Staatsoberhaupt abzusetzen. Wenn das Machtvakuum nicht schnell wieder gefüllt wird, wäre dies ein günstiges Klima für einen Staatstreich.

Sind die Verfassungsänderungen notwendig?

Nein, ganz und gar nicht. Die Verfassung vom Oktober 1988 schreibt vor, daß 1992 die Hälfte aller Einnahmen aus Lohn- und Einkommensteuer sowie aus der Besteuerung von Industrieprodukten an die Länder und Gemeinden weitergeleitet werden muß. Collor gibt vor, daß dann der Staatshaushalt zusammenbricht. In Wirklichkeit jedoch will er diesen Machtverlust nicht hinnehmen.

Auch der Weltwährungsfonds drängt auf Verfassungsänderungen...

Collor macht genau das, was der Weltwährungsfonds sagt. Dieser versucht derjenigen Regierung, die gewillt ist, die Schulden zu begleichen, das Leben zu erleichtern. Durch die Änderung der Verfassung würde der Staat über größere Geldmengen verfügen, womit die Schulden bezahlt werden könnten.

Wird Brasilien die 120 Milliarden Dollar Auslandsschuld jemals zurückzahlen?

Die Schuld ist unbezahlbar. Wie soll Brasilien 10, 15 Milliarden Dollar an die Gläubiger überweisen, während im Land der Hunger und die Kinderprostitution steigt? Die Schuld ist ein politisches, kein wirtschaftliches Problem. Brasilien sollte auf Regierungsebene, nicht mit den Banken verhandeln, denn die Bankiers haben nicht das geringste Gespür für soziale Probleme.

Ist Brasilien nicht auf internationale Kredite angewiesen?

Brasilien bekommt schon seit zwölf Jahren keine ausländischen Kredite mehr. Statt die Milliardenüberschüsse unserer Außenhandelsbilanz ins Ausland zu überweisen, sollten wir lieber einen Entwicklungsfonds einrichten und das Geld im Land selber investieren. Es ist notwendig, daß sich die Lateinamerikaner darüber klar werden, daß das Geld, das für die dritte Welt bestimmt sein könnte, zur Zeit die Wirtschaft Osteuropas aufmöbelt. Diese ist vom ideologischen und politischen Standpunkt her wesentlich interessanter. Wir müssen uns damit abfinden, daß in Zukunft keine Gelder nach Brasilien fließen werden. Höchstens von den brasilianischen Unternehmern, die ihr Konto in der Schweiz schließen.

Wie soll Brasilien dann seine Wirtschaftskrise überwinden?

Die Brasilianer müssen sich selber helfen. Das Problem ist nicht irgendein Gesetz, wie Collor es annimmt, sondern die Glaubwürdigkeit. Mir scheint, daß die europäische Mittelschicht durchaus bereit wäre, ein zeitweiliges Opfer zu bringen, wenn sie wüßte, daß das Geld gut angelegt wäre. Das Problem ist, daß niemand einen einzigen Dollar in das Land investiert, weil er weiß, daß die Korruption ihn auffrißt! Unsere Unterentwicklung ist nicht nur die Schuld der reichen Industriestaaten oder gieriger Gläubiger, sondern auch unserer rückwärtsgewandten und korrupten Eliten.

Was für einen Sozialismus verficht die PT nach dem Abriß der Berliner Mauer?

Für uns war der Einsturz der Mauer keine Niederlage des Sozialismus, sondern der Bürokratie. Seit der Gründung der PT vor zwölf Jahren kritisieren wir das Einparteiensystem. Unser Sozialismus steht nicht im Widerspruch zur Demokratie. Interview: Astrid Prange