„Und dann dieses ganze Links-rechts-Zeug“

■ Christoph Wermke, 14jähriger Gymnasiast aus Ost-Berlin, erzählt, was sich nach dem Mauerfall geändert hat

Am 9. November 1989, da hat mich Mutter nachts geweckt. Und dann haben wir die ganze Zeit vor der Glotze gesessen. Und am nächsten Morgen sahen wir schon auf dem Schulweg, wie die Leute vor dem Checkpoint Charlie alle anstanden, um rüberzukommen. Wir sind dann am nächsten Wochenende alle rübergegangen — in die Wilmersdorfer Straße. Und da habe ich meine ersten Rollschuhe gekauft, die nach vier Wochen schon Schrott waren. 30 Mark haben die gekostet. Aber nach zwei Tagen war der Jubel schon nicht mehr so wahnsinnig, sondern nur noch Kaufhäuser-Rennen. Auf der Wilmersdorfer Straße waren wahnsinnig viele Ossis, die konnte man gut erkennen (macht eine grabschende Bewegung). Den Westen, den fand ich eigentlich nicht so besonders. Wenn man kein Geld hat, ist das nicht so doll. Damals hatte ich auch noch kein Preisgefühl. Wenn ich heute sehe, 30 Mark für Rollschuhe, ist das im Prinzip wahnsinnig billig.

Später habe ich angefangen, Mauersteine zu kloppen und zu verkoofen. Da gab's ja immer noch das Ostgeld, also war das Zeug ganz schön was wert. Der Kurs war 1:3. Ich hab den Kram am Checkpoint Charlie verkauft. Und dann meinte so'n kleines Mädchen: Geh weg, das hier hab' ich gemietet. Sie hat ihren großen Bruder geholt, und der seine Freunde, so ungefähr. Also das ist die Entwicklung, die man an der Mauer feststellen konnte. Inzwischen hat die sich noch extrem verschlechtert, also im Osten war das früher nicht so, daß da Banden rumgezogen wären und sich geprügelt hätten. Na gut, hat sich mal wer geprügelt, aber so richtig Banden gab es nicht. Die kamen dann aus Kreuzberg und zu uns rüber Zoff machen, und dann haben sich auch im Osten die Gangs gebildet. Und dann hat man auch erst dieses ganze Links-rechts-Zeug mitgekriegt. Bevor die Mauer fiel, wußte ich nicht mal, was links heißt. Und dann habe ich mitgekriegt, daß die Linken und die Rechten sich da und dort geprügelt haben. Also wenn die mit Messern aufeinander losgehen, das find' ich nicht spaßig. Ich finde das genauso blöd von den Türken wie von den Typen in Lichtenberg oder Hoyerswerda.

Ein Mädchen aus unserer Klasse war mal an einer Kreuzberger Schule. Und sie hat uns später erzählt, daß dort alle Jungs und Mädchen in verschiedenen Banden sind und sich auch untereinander verprügeln. Am meisten Spaß haben sie, wenn sie irgendwen als Nazi enttarnen. In unserer Klasse waren auch zwei Mädchen, die immer Hooligan-mäßig am Lichtenberger Bahnhof gestanden haben. Das eine Mädchen erzählte, sie könnte jetzt nicht mehr auf den Alexanderplatz gehen — die Banden haben alle untereinander darum gekämpft, wer den Alex kontrolliert —, weil sie mal im Fernsehen ein Interview gegeben hätte. Und eine türkische Mädchengang, die damals den Alex beherrschte, hätte sie entdeckt.

Überhaupt kriegt man jetzt viel schneller schlechte Noten. Die Lehrer glauben, sie müssen jetzt mit schlechten Zensuren nur so um sich schmeißen. Die früheren Lehrer haben jetzt irgendwo anders hin gewechselt, damit sie eine neue Identität haben. Aber die neuen Lehrer sind auch alle aus'm Osten, auch der Direktor. Früher haben die Lehrer alles hundertmal erklärt. Für mich war das manchmal langweilig, weil ich eine hohe Auffassungsgabe habe. Aber jetzt bin ich unter lauter Leuten mit einer ganz tollen Auffassungsgabe. Dafür gibt es heutzutage nicht mehr diese ganzen Tadel und Verweise und Verwarnungen. Und jeden Monat die Monatszensur für Betragen. Notiert von Ute Scheub