Die Einheit der Mißvergnügten

Das erste Jahr nach dem Schock der deutsch- deutschen Intimität  ■ EINE BILANZ VON KLAUS HARTUNG

TRAURIGE FORMELN. Ein Jahrestag zum Vergessen? Es bedarf schon einiger Mühe, sich an die Gegenwart zu erinnern, an die mitteleuropäische Gegenwart, in der das geteilte Land 1989 doch angekommen schien, angesichts dieser herrschenden deutschen Zustände. Der gesellschaftliche Stoffwechsel wird heute beherrscht von Klagen, Anklagen, vom Sich-Beklagen. Die Deutschen sind offenbar nur in der Angst vor dem bekannten und unbekannten Verlust vereint. In stumpfer Komplimentarität spricht die Politik folgerichtig von der „Notwendigkeit des Teilens“. Der Jahrestag wird da neue Stilblüten zeitigen. Nach der staatlichen Vereinigung gehe es um die „Herstellung der inneren Einheit“, tönt es aus Bonn. Eine Formel, die die Grobheit des Zugriffs, das allgemeine Magendrücken, den Bürokratismus und die Phantasiearmut förmlich wie ein Transparent vor sich her trägt.

Diese neue deutsche Gesellschaft ist vergangenheitssüchtig. Transformation der DDR-Gesellschaft soll als Vergangenheitsbewältigung, als ein Ritual von Schuld und Sühne erledigt werden. Und die hämisch- schweigende Mehrheit der Vereinigungsgegner hat jetzt den Mob von Hoyerswerda als Beweis dafür, daß das vereinigte Deutschland mit Sicherheit ein unangenehmer Geselle in der Völkergemeinschaft sein wird. Natürlich muß man froh sein, das ist bitter genug angesichts der selbstverschuldeten Blindheit der Politik, daß die Rohheit der gesellschaftlichen Vereinigung, daß der Haß, den die sozialen Verwerfungen speichern, schnell genug nach außen kommt. Offenbar gibt es im Jahre 1991 viel zu viele Menschen, die die Demokratie für eine Gesellschaftsordnung halten, in der man ungestraft Menschenjagden auf Minderheiten veranstalten kann, wenn man sich in seinen Erwartungen betrogen fühlt.

Genaugenommen ist Hoyerswerda nicht nur ein Datum der Ausländerfeindschaft, sondern ebensosehr ein Datum der Inländerfeindschaft. Die vereinten Deutschen spalten sich in die häßlichen Deutschen und in die saturierten Europäer. Aber beide zusammen sind sich in Wahrheit so nah und ineinander verstrickt, daß sie sich gegenseitig den Blick auf die Wirklichkeit verstellen. Die gerade vereinten Deutschen verhalten sich wie in einer überjährigen Ehe, in der die Partner sich gar nicht mehr erkennen können, weil sie sich mit dem gegenseitigen Glücksverlangen bekämpfen.

Aber das ist nur ein Bild, noch keine Erklärung. Erklärt werden muß, warum man derart in eine so abnorme Intimität unerfüllter Zustände versunken ist? Warum die vierzigjährige Entfremdung nicht respektiert wird?

RACHSÜCHTIGE MUSE DER GESCHICHTE. Überhaupt fehlt in diesem Lande die glückliche Hand für die gemeinsamen Jahrestage. Eine rachsüchtige Muse der Geschichte kontrapunktiert die Jubiläen der Vereinigung mit der Misere und der Utopie zugleich. Mit dem Jahrestag der Währungsunion lief der Kündigungsschutz aus, mit dem Jahrestag der Vereinigung kommt in Ostdeutschland eine in diesem Jahrhundert noch nicht dagewesene Mietsteigerung.

Andererseits ist dieser 3.Oktober unauflösbar verknüpft mit den Daten der demokratischen Revolution von 1989, in der DDR und in Osteuropa. „Geschichte ist machbar“; „die Vereinigung ist ein einzigartiges Experiment“; „die unverdiente Chance der Deutschen“: Formeln von 1989. So rauschhaft, wie die demokratische Revolution die Post-Histoire und die Riten des Status quo zerbrach, so beglückend die Erfahrung war, daß die Konsumenten des Realsozialismus als lebendige Menschen, als protestierende Subjekte auf den Straßen der DDR erschienen, so tief scheint jetzt der Fall zu sein. Die Macher der Geschichte sind wieder zu Konsumenten geworden und stillen ihren Nachholbedarf an Konsumgütern, Welterfahrung und gesellschaftlicher Mobilität.

Ein Anlaß zur Kritik an den Massen? Abgesehen davon, daß in diesem Deutschland die Minderheit nun wirklich ganz gering ist, die das moralische Recht hätte, die Massen an ihren historischen Auftrag zu erinnern, steckt in der im Westen so hämisch kommentierten Undankbarkeit des Ostlers etwas historisch völlig Richtiges: Wer will den Ostler denn ernsthaft mahnen, zu beachten, daß es ihm vergleichsweise besser geht, wo er doch schon vierzig Jahre „vergleichsweise“ gelebt hat. Sich zu opfern für die Aufgaben der Zukunft ist im vereinten Deutschland nicht denkbar — nach vierzig Jahren Warten auf die Zukunft. In der ehemaligen DDR war viel zuviel Alltagsmisere und Zukunftsdroge. Zu Recht halten sie aggressiv und klagend mit ihren Ansprüchen an dem Hier und Jetzt fest. Sie verhalten sich nicht anders als der westdeutsche Wohlstandskonsument, der gewohnt ist, daß das Dienstleistungsunternehmen Politik funktioniert und die Besitzstände sichert. Nur im Osten funktioniert es eben nicht, und die Besitzstände lassen auf sich warten. Und der Westdeutsche wird durch das Jammern dort auch deswegen aggressiv, weil er im Ostler genau dasselbe Konsumentenverhältnis zur Wirklichkeit entdeckt, mit dem er an der Sonnenseite der geteilten Welt so gut lebte.

DROGE NORMALISIERUNG. Aber bevor wir in diesem Herbst des Mißvergnügens alle Defizite der Vereinigung der Politik anlasten, soll die Distanz benutzt werden, einen nüchternen Blick auf den Zustand der Politik zu werfen. Das kann man nämlich. Nach einem Jahr vereintes Deutschland wird erkennbar, wie tiefgehend die Bundesrepublik die Chance eines Neuanfangs ignoriert hat. Ihr ist nichts anderes eingefallen, als mit panischer Energie alle Untugenden und Fragwürdigkeiten der Bundespolitik nach Ostdeutschland zu exportieren. So gesehen ist die Vereinigung einfach ein großer politischer Rückschritt. Alle politischen Kräfte haben die Öffnung und die Auseinandersetzung mit den Problemen einer anderen Gesellschaft, die real existiert, vermieden.

Die Politik der Besitzstandswahrung ist auf die zerbrochene DDR übertragen worden, obwohl in der Bundesrepublik schon das Bewußtsein entwickelt war, daß mit dieser Politik die Zukunftsaufgaben nicht zu bewältigen sind. Die Parteien haben ihr Parteienprivileg übertragen. Die Gewerkschaften haben die Lohnstruktur des westdeutschen Arbeitnehmers im Osten verteidigt. Der Beamtenstaat hat sein Terrain drüben abgesichert — die Liste wäre endlos zu erweitern.

Der zweite, immer wieder beklagte Mißstand der bundesdeutschen Politik, die Verrechtlichung aller politischen Auseinandersetzungen, hat mit der Vereinigung noch einmal einen Exzeß erlebt. Der Einigungsvertrag war eine Orgie der Verrechtlichung. Kein anderes Volk dieser Welt wäre auf den Gedanken gekommen, eine politische, kulturelle und soziale Vereinigung durch einen Vertrag sichern zu wollen. Daß Verhandlungsführer Schäuble in seinem Buch Der Vertrag sich auch noch lobt, wie geschmeidig er die strittigen Fragen ausgeklammert habe, spricht Bände. Es kam dem Versuch gleich, bei dem Vertrag einer Eigentumsübertragung die Frage des Preises auszuklammern.

Es bedarf keiner Prophetie, um zu sehen, daß in den nächsten Jahrzehnten Generationen von Juristen die deutsche Vereinigung vor die Gerichte bringen werden. Dieses Ausklammern hat nicht nur den demokratischen Streit ausgeschlossen, hat nicht nur das Parlament entmündigt, die Politik hat sich selbst ausgeklammert. In Wahrheit hat sich die Bundespolitik mit ihrem rücksichtslosen Minimalismus zu einem historischen Ende gebracht. Wer den Bonner Bundestagsdebatten folgt, sieht da die Zeichen an der Wand.

DER SCHOCK IM SPIEGEL. Wer sich einmal unverhofft im Spiegel gesehen hat, ist meist erschrocken, wie mies er aussieht. Für einen Augenblick ist der narzistische Schutz gebrochen. Die deutsch-deutsche Intimität ist ein vertrackter, verdoppelter Spiegelblick. Wir sehen uns gegenseitig in unserer Gesellschaftlichkeit. Nicht nur als soziale Wesen, sondern als Menschen, die aufgrund ihrer Sozialisierung auf eine bestimmte Weise handeln. Der Westler erlebt sich in seiner Besitzgier, seiner Arroganz, seinem alltäglichen Mangel an Menschlichkeit. Der Ostler erlebt sich wohl in seiner Verantwortungsscheu, seinem stumpfen Sicherheitsbedürfnis, seiner Unfähigkeit zur Freiheit. Dies ist der latente Dauerschock im Prozeß der Vereinigung. Und Inländerfeindschaft ist ein Versuch, ihn abzuwehren.

Ritualisierte Normalisierung ist ein anderer Versuch. Aber eben dieser Schock ist die große Chance. Aus diesem Schock muß die kritische Distanz zu unserer gemeinsamen und getrennten Geschichte entstehen, die eine neue deutsche Demokratie entstehen lassen kann. Aus diesem Schock allein kommt die notwendige Neugier, die Wißbegier und das Begreifen.

Erst wenn sich dieser Schock der deutsch-deutschen Intimität auflöst und aus der Nähe die Fremdheit entsteht, die real ist, wird das historisch Neue in den Blick kommen. Wer in Ostdeutschland herumfährt, kennt das hohe Tempo der Veränderung. Das historisch Neue schlägt sich mit der definitorischen Übermacht des Alten herum. Die geteilte deutsche Öffentlichkeit nimmt nur das Scheitern des Neuanfangs wahr. Die neuen Kräfte haben keine Partei.

CHANCE DER ZERSETZUNG. Hier liegt das zukünftige Problem des vereinigten Deutschlands. Dauert das Mißverhältnis einer Politik, die blind den Status quo exekutiert, zur einer Gesellschaft, die wilden und schnellen Veränderungen ausgesetzt ist, in der ein totaler Umsturz des gewohnten stattfindet, auch weiterhin fort, dann gerät die neue Großmacht in der Mitte Europas in den Zustand pathologischer Selbstbezogenheit. Das Land wird unruhig bleiben und den Abstand zu den Nachbarn vergrößern.

Also, doch wieder die gefährlichen deutschen Zustände? Einen Trost gibt es immerhin: die Vereinigung selbst hat sich schon als eine radikal zersetzende Kraft erwiesen. Die Status-quo-Generation Bonns steht vor ihrem inneren Zerfall. Vor 1989 war jeder Prognostiker sicher, daß die Generation der Lafontaines nun die Macht übernehmen wird und Rot-Grün die Farbe der Zukunft zu sein hat. Mit der Vereinigung hat sich gezeigt, daß sowohl die Enkel Brandts wie diejenigen Adenauers, als auch die grünen Hoffnungsträger gerade noch die Kraft haben, sich zu einer Schutzgemeinschaft westdeutscher Lebensart zu vereinen.

Und auch die intellektuellen Vormünder können nur noch reagieren; nicht nur, weil sie den Zerfall ihrer Weltbilder noch immer der historischen Vernunft übelnehmen. Sie haben im Osten auch erlebt, wie die Intellektuellen, die zur herrschenden Klasse gehörten, nun in der Verteidigung ihrer Privilegien verstummen. Die Art Tabula rasa, die wir erleben, ist erst einmal freier Raum fürs Denken. Und: Auch wenn im Augenblick die Leute, die sich in schnellen Veränderungen behaupten müssen, den Kopf zu voll haben — der rabiate Schock unverstellter Erfahrung von Gesellschaft ist das Treibmittel, aus dem die Zukunft gebacken wird.

Wie hoch die Chancen für eine offene, demokratischere und zivile Gesellschaft sind, ist nicht ausgemacht. Garantien gibt es keine. Aber auch von einer Wende zum Schlechten kann nicht die Rede sein. Vielmehr ist die alte Tugend der Gesellschaftskritik, die durch die Post-Histoire abgeschafft schien, wieder der Königsweg zur Wirklichkeit.