Initialzündung zur Vermögensbildung

■ Die deutsche Vereinigung als Chance, eine alte bundesdeutsche Fehlentwicklung zu korrigieren/ Der stellvertretende DGB-Vorsitzende Ulf Fink (CDU) plädiert für eine zweite Phase der sozialen Marktwirtschaft

taz: Die soziale Krise in Deutschland hat ihren Tiefpunkt noch nicht erreicht, obwohl es einige Aufschwungzeichen gibt. Sie hatten vor einigen Monaten einen Solidarpakt der Tarifparteien vorgeschlagen. Dieser Pakt ist nicht zustande gekommen. War der Druck der Krise nicht stark genug?

Ulf Fink: Es sind doch einige beachtliche Elemente dieses Solidarpakts umgesetzt worden. Der Solidarpakt bestand ja aus drei Teilen. Arbeitgeber, Gewerkschaften und der Staat sollten sich solidarisch erweisen. Beim Staat hat es mittlerweile mit dem Aufschwungpaket Ost erhebliche zusätzliche Anstrengungen gegeben. Auf seiten der Arbeitgeber fehlt bisher praktisch jeder richtige Beitrag. Auf seiten der Gewerkschaften gibt es eine Tarifpolitik, die davon ausgeht, daß erst in absehbarer Zeit gleiche Löhne für gleiche Arbeit bezahlt werden. Der Vorschlag einer einprozentigen investiven Beteiligung hat allerdings noch keinen Niederschlag gefunden. Ich denke, daß ein wesentlicher Grund darin liegt, daß der Gedanke der Solidarität, der sich nach dem weltweiten Durchbruch des Freiheitsgedankens mehr und mehr in den Vordergrund geschoben hat, noch nicht von allen Beteiligten im notwendigen Maße erkannt worden ist.

Im Vorfeld der kommenden Tarifrunde im nächsten Frühjahr haben Sie nun mit den Altpolitikern Georg Leber und Hans Katzer eine uralte Debatte aus der Geschichte der Bundesrepublik wiederbelebt — die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand. Was hat das mit den Problemen ist Ostdeutschland zu tun?

Sehr viel. Was schon früher diskutiert, aber nicht durchgesetzt wurde, muß nicht schlecht sein. Wir können für uns in Anspruch nehmen, im Westen Deutschlands ein auch international beachtetes soziales Modell der marktwirtschaftlichen Ordnung durchgesetzt zu haben. Aber in einem zentralen Punkt sind wir nicht erfolgreich gewesen: bei der Eigentumsstreuung, die in der christlichen Soziallehre immer eine besondere Rolle gespielt hat. Wir waren immer für das Privateigentum, aber wir haben gleichzeitig gesagt: die Voraussetzung für die Anerkennung des Privateigentums ist, daß es nicht nur wenigen, sondern vielen gehört. Eine breite Streuung des Produktivkapitals ist nicht erreicht worden. 1968 verfügten in Westdeutschland 1,7 Prozent der Bevölkerung über 75 Prozent des Produktivvermögens. An dieser Zahl hat sich bis zur Stunde praktisch nichts geändert. Ich möchte erreichen, daß in der zweiten Phase der sozialen Marktwirtschaft, die nun mit dem Wiederaufbau im Osten Deutschlands begonnen hat, diese Fehlentwicklung nicht wiederholt wird, daß dort die Entwicklung von Anfang an in die richtigen Bahnen gelenkt wird.

Wie wollen Sie das erreichen?

Dadurch daß der Staat eine Initialzündung für eine breite Vermögensbildung gibt. Die kann nach Lage der Dinge nicht vorrangig von den Gewerkschaften erwartet werden. Die wissen zwar, daß die Konsumlohnpolitik, die seit Victor Agarz der zentrale Bestandteil gewerkschaftlicher Politik ist, nicht verhindern konnte, daß die Lohnquote mittlerweile auf einen historischen Tiefstand gesunken ist. Auf der anderen Seite ist kaum zu erwarten, daß die Gewerkschaften jetzt von ihren Mitgliedern den Verzicht auf Barlöhne zugunsten von Investivlöhnen erwarten können. Und auch von den Arbeitgebern ist nicht zu erwarten, daß sie jetzt einfach mal einen Prozentpunkt bei den Löhnen drauflegen, wenn es investiv vereinbart wird. Wo kann also am ehesten ein Anstoß erwartet werden, damit diese lange, fruchtlose Debatte endlich zu Erfolgen führt? Vom Staat: Er ist der Wahrer des Allgemeinwohls. Ich fordere die Bundesregierung auf, ein Gesetz vorzulegen unter der Überschrift „Eigentum für jeden“.

Wie könnte ein solcher Gesetzentwurf aussehen?

Er sollte so ausgestaltet sein, daß nach dem Prinzip „Laßt viele Blumen blühen“ alle Formen begünstigt werden, die diesem Gedanken der breiten Vermögensbildung entsprechen. Es sollte dabei vorgesehen sein, daß sowohl der Staat wie die Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihren Teil dazu beitragen. Der Staat könnte beispielsweise durch Steuererleichterungen oder Prämiengewährung, insbesondere für die Einkommensschwachen, den Gedanken unterstützen. Er kann auch dafür sorgen, daß im gesetzlichen Auftrag der Treuhand die breite Eigentumsstreuung verstärkt wird, etwa durch Vergabe von Wandelanleihen an ostdeutsche Betriebe. Später, wenn das Unternehmen floriert, können sie in Aktien oder GmbH-Anteile umgewandelt werden. In einem solchen Vorschlag sollten auch die verschiedenen Formen der Vermögensbildung auf betrieblicher Ebene besonders begünstigt werden. Das wird für viele Arbeitnehmer in Ostdeutschland attraktiv sein, die vor allem an der Existenz ihres Unternehmens interessiert sind. Aber es müssen natürlich auch überbetriebliche Formen angeboten werden.

Es ist genügend Kapital für die ostdeutsche Wirtschaft da, und die rentablen Betriebe können sich das notwendige Geld ganz normal auf dem Kapitalmarkt holen. Wozu dann noch das Geld der Arbeitnehmer?

Richtig ist, daß wir derzeit einen liquiden Kapitalmarkt haben. Aber das wird in Zukunft nicht so bleiben. Für die Zukunft werden wir einen knappen Kapitalmarkt haben. Es muß nicht nur der Aufbau der ostdeutschen Wirtschaft, sondern der ganze Aufbau Polens, Ungarns, der Tschechoslowakei, jetzt der Aufbau Rußlands und der anderen Länder finanziert werden. Wir haben einen ungeheuren Kapitalbedarf, der sich bereits jetzt so ausgewirkt hat, daß der Zins auf einem hohen Stand ist. Und es gibt überhaupt keine Anzeichen dafür, daß er sinkt — mit der Konsequenz, daß diejenigen, die Kapital zur Verfügung stellen, sehr viel Geld dafür bekommen, während die Arbeitskraft im Verhältnis dazu schwächer ist. Denn wir haben heute keinen Mangel an Arbeitskraft, wir haben eher einen Mangel an Kapital. Allerdings müssen wir bei allen Vorschlägen zur Vermögensbildung sehr darauf achten, daß die Arbeitnehmer nicht neben ihrem Arbeitsplatzrisiko auch noch das Kapitalrisiko zu tragen haben. Da gibt es aber eine Fülle von Formen, wie das gemacht werden kann.

Sollen bestimmte Teile der Lohnzuwächse in Fonds eingebracht werden, die dann als Investivkapital in Ostdeutschland zur Verfügung stehen?

Mein persönlicher Vorschlag ist das. Ich möchte jetzt nicht einen bestimmten Vorschlag präferieren, sondern eine Initialzündung des Staates, um aus dieser langjährigen und fruchtlosen Debatte endlich herauszukommen, in der jeder seine Argumente gegen einen ganz konkreten Vorschlag in den Vordergrund schiebt — mit der Konsequenz, daß dann insgesamt nichts zustandegekommen ist. Das Ergebnis ist diese beklagenswerte Lohnquotenentwicklung und die beklagenswerte Vermögensverteilung. Jetzt kommt es erst mal darauf an, sich auf den Grundsatz zu verständigen. Wollen wir eine breitere Streuung des Vermögens oder wollen wir keine?

Ihre Vorschläge hätten Sie genauso gut vor der Vereinigung machen können. Warum ist durch die Umstellung der ostdeutschen Wirtschaft auf die Marktwirtschaft eine besondere Situation gegeben?

Ich suche immer wieder Aufhänger für diese Idee. Dehalb habe ich ja auch diese Solidarpaktidee entwickelt. Oswald von Nell-Breuning, der große Vordenker der katholischen Soziallehre, hat immer wieder gesagt: Es könnte zwar sein, daß die Gewerkschaften sich durch breite Vermögensbildung ihre eigene Grundlage entziehen. Denn wenn sie auf dem Widerspruch von Kapital und Arbeit basieren — und ausschließlich darauf —, ist eine Versöhnung von Kapital und Arbeit für sie gefährlich. Tatsächlich haben Kapital und Arbeit aber nur verschiedene Funktionen, die personell keineswegs getrennt sein müssen. Vermögensbildung für Arbeitnehmer zielt auf eine zweite Phase der sozialen Marktwirtschaft oder vielleicht sogar auf eine Aufhebung der bisherigen Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft in einem dritten Sinne.

Für die Arbeitnehmer läuft es zunächst einmal auf Lohnverzicht hinaus.

Ich habe Verständis dafür, wenn der einzelne sagt: Warum soll ich denn von meinem Lohn nur einen Teil konsumieren und den anderen sparen? Es ist deshalb außerordentlich schwer, als Gewerkschafter für diesen Gedanken zu werben. Denn es ist keine unmittelbare Zustimmung innerhalb der Mitgliedschaft da. Dennoch streut man den Leuten Sand in die Augen, wenn man es nicht macht. Eine Volkswirtschaft kann nicht darauf verzichten, Investitionen zu tätigen. Die notwendigen Investitionen setzen sich so oder so durch. Jede moderne Volkswirtschaft hat etwa 20 Prozent Investitionskostenanteil. Und wenn die einzelnen es nicht freiwillig tun, werden sie gezwungenermaßen diese Investitionen finanzieren. Wie kommen denn die heutigen Kapitalgeber an das Kapital? Wie finanzieren sie denn die Investitionen? Das fällt doch nicht vom Himmel. Das kann doch nur vom volkswirtschaftlichen Kreislaufprozeß abgezweigt werden. Entweder über die steigenden Preise — dann nimmt man es den Leuten, die glauben, sie hätten ihren Lohn und könnten frei darüber verfügen. Aber in Wirklichkeit unterliegen sie einer Geldillusion bei der Lohnpolitik. Oder es wird ihnen über die Steuererhöhungen abgenommen. In welcher Form auch immer: Die notwendige Investitionsfinanzierung setzt sich durch. Und deshalb ist es eine Illusion zu glauben, daß die Arbeitnehmer ihr Geld nur verkonsumieren könnten und daß andere schon für die notwendige Investitionsfinanzierung sorgen. Letztlich bezahlen die großen Investitionen nicht einzelne wenige Leute, die Milliardäre, sondern alle Investitionen werden von den breiten Schichten bezahlt. Die Frage ist deshalb eben nur: Wem gehören diese Investitionen? Gehören sie wirklich denjenigen, die es letztlich finanzieren, oder gehören sie den wenigen, die so tun, als ob sie es finanzieren?

Noch einmal: Was ist die spezifisch neue Situation durch die Vereinigung?

Die liegt darin, daß wir uns jetzt am Beginn des neuen Aufbauprozesses befinden. Am Ende ist die Vermögensverteilung praktisch nicht mehr änderbar, weil dann die ganzen Titel bereits verteilt sind. Und dann ist es sehr schwer, den westdeutschen Mehrheitseigner eines neu erworbenen ostdeutschen Unternehmens zu veranlassen, seinen Anteil wieder auf weniger als 51 Prozent zu reduzieren. 51 Prozent symbolisieren für ihn seine Macht über dieses Unternehmen. Jetzt am Beginn werden die Weichen für die Vermögensverteilung der Zukunft gestellt. Läuft das erst einmal fünf, sechs, sieben Jahre, sind die Vermögen und dann auch die Zinsen und die Rechte, die daraus fließen, wiederum einseitig verteilt.

Besteht nicht die Gefahr, daß gut verdienende westdeutsche Arbeitnehmer stärker an der Vermögensbildung partizipieren als die ostdeutschen, also letztlich die westdeutschen Arbeitnehmer Betriebe ihrer ostdeutschen Kollegen aufkaufen?

Das wäre mir immer noch lieber, als wenn sie ausschließlich von den großen Unternehmen aufgekauft werden und damit in die bisherige Kapitaleignerschaft fließen würden. Richtig ist, man muß etwas tun, damit auch die ostdeutschen Arbeitnehmer daran partizipieren.

Die können aber am wenigsten auf Teile ihres Lohns verzichten.

Deshalb sage ich, daß wir eine besondere Förderung von Einkommensschwachen vorsehen sollten. Damit kämen die Ostdeutschen automatisch besonders in den Genuß. Außerdem beantworten die ostdeutschen Arbeitnehmer die Frage „Höherer Lohn oder sicherer Arbeitsplatz oder daß ihnen selber das Unternehmen gehört“ eindeutig zugunsten des letzteren Ziels. Man verzichtet eher auf einen Wohlstandszuwachs, wenn man weiß, daß das Unternehmen sicher bleibt und einem schließlich auch gehört.

Woher nehmen Sie den Optimismus, daß sie mit diesem Vorstoß größeren Erfolg haben werden als mit Ihren früheren?

Diejenigen, die an einer Fortentwicklung der sozialen Martkwirtschaft interessiert sind, haben nunmehr das Leitbild der Auseinandersetzung mit dem Sozialismus/Kommunismus verloren. Es muß aus eigener Kraft etwas Neues geschaffen werden. Ich freue mich sehr, daß die beiden großen Kirchen sich sehr nachdrücklich dieses Ziel zueigen gemacht haben. Ich freue mich auch darüber, daß wir parteiübergreifend zu einem Konsens kommen. Ich habe nicht nur bei Norbert Blüm Unterstützung gefunden, sondern auch Herr Thierse von der Sozialdemokratischen Partei hat sich sehr nachdrücklich für diese Idee ausgesprochen. Hermann Rappe und andere wichtige Gewerkschaftsführer haben sich dafür ausgesprochen. Ich hoffe also, daß es gelingen kann, in der jetzigen Situation einen neuen Anstoß zu geben. Interview: Martin Kempe