Ach, Berlin! Ach, Europa!

■ Sechs Schriftsteller und ein Moderator bei dem Versuch, das »andere Europa« zur Sprache zu bringen

Die Runde der Teilnehmer, die sich am Abend vor dem »Tag der deutschen Einheit« dem Thema »Schriftsteller in einem anderen Europa« widmen wollten, war überaus attraktiv. György Konrád, Libuse Moniková, Rainer Kirsch, Peter Schneider. Allein der bulgarische Übersetzer und Essayist Wezeslav Konstantinov war vielleicht einem größeren Publikum unbekannt. Auch die Moderation durch Karl Schlögel ließ eher ein volles Haus erwarten: Als Essayist und Rußlandkenner hatte er wie kaum ein anderer die große Gezeitenwende und das Europa, das in ihr auftauchte, antizipiert. Aber aus der neuen mitteleuropäischen Metropole fanden nur knapp hundert Interessierte den Weg in die Akademie der Künste. Das war's: Ach, Berlin! Das »Ach, Europa« läßt sich den Anstrengungen des Podiums nachrufen. Es war ein Abend des Scheiterns, aber, wie so oft, im Scheitern höchst aufschlußreich. Vier ironische und überaus kultivierte Osteuropäer kommentieren konsterniert und auch ein wenig lustlos die deutsch-deutschen Verstrickungen, die Rainer Kirsch und Peter Schneider inszenierte. Beide verbrauchten — der unglückliche Moderator in der Mitten — das schmale Zeitbudget.

Karl Schlögel hatte einen ambitionierten Anspruch formuliert, der eigentlich die historische Hilflosigkeit auf den Begriff brachte, bevor sie im Podium entfaltet werden konnte: Wie könne man eine Sprache finden, in einem Augenblick, in dem »das Epos des Lebens in Minuten zusammengedrängt wird«. In einer Zeit, wo aus dem Traum Europas ein Alptraum zu werden drohe — sollte man jetzt nicht versuchen, »in der Flucht innezuhalten und zugeben, daß man sich für überfordert hält?«. Die Osteuropäer, Mitteleuropäer vermieden es tunlichst, als moralisierende Intellektuelle die Kommandohöhen der Zeit zu besetzen. Bei allen klang das Aufatmen an, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks auch die historische Rolle abgeworfen zu haben. Libuse Moniková sprach von der Erleichterung, nun politisch überflüssig zu sein und dem Privileg des Schriftstellers auf »Schweigen und Einsamkeit«. Konrad erkannte die Ratlosigkeit, die das historisch Neue auslöse in der Unsicherheit, die in der Bedeutung der Worte aufgebrochen sei. »Wir sind ganz normale Europäer geworden«, aber zu der Normalität gehört eben auch, daß er beispielsweise in Südungarn den Krieg in Jugoslawien unmittelbar hören könne. Der Faden für ein Gespräch war also da. Aber dann setzte Rainer Kirsch an mit erstens, zweitens, drittens. Zunächst einmal fand er nicht, daß die Weltläufe für die Schriftstellerei zu unruhig seien. Auch bei Shakespeare sei viel los gewesen. Kurzum — im besten DDR- Ton —, »das ist doch normal«. Was allerdings nicht normal war in seinen Augen: die Kolonisierung der ehemaligen DDR durch die westdeutsche Arroganz. Er zitierte einen Satz, wonach es jetzt »um die Eliminierung der DDR-Intellektuellen« gehe. Allerdings gab er gleich zu, er sei sich nicht ganz sicher, ob das Wort »Eliminierung« gefallen sei. Auch an den Urheber des Zitats könne er sich gerade nicht erinnern. Selbst die Regeln des Zitatnachweisens sind offenbar im vereinten Deutschland zerbrochen. Als er dann noch hinzufügte: »Man hat getan, was man konnte«, war nun Peter Schneider zum Grundsätzlichen gereizt. Die Opferhaltung sei unerträglich. »Intellektueller Kitsch«. Warum haben denn die DDR- Schriftsteller seinerzeit niemals über die Stasi geschrieben. Warum sind von den DDR-Schriftstellern nie freie Wahlen gefordert worden. Rainer Kirsch replizierte mit provozierender Sprachlosigkeit »es wäre unsinnig gewesen, freie Wahlen zu fordern«.

Peter Schneider hatte mit allem, was er sagte, vollkommen recht. Nur selbstgerecht wirkte es, von einem Rainer Kirsch Offenbarungen zu verlangen, der sich schon längst in den Bunker geflüchtet hatte und allen Angriffen dieses »Ich-habe-nur- Texte-verfaßt« entgegenhielt. Karl Schlögel, der gequälte Moderator, der offensichtlich bedauerte, nicht in die Rolle des Diskutanten übergehen zu dürfen, warnte vor dem »tribunalistischen Zug« der deutsch-deutschen Debatte. Aber die teutonische Energie der Vergangenheitsbewältigung war nicht mehr zu bremsen. Auf eine verquere Weise lag darin der Gewinn des gescheiterten Abends. Er machte mit unüberbietbarer Klarheit anschaulich, was man hierzulande ahnt. Libusa Moniková formulierte es in ihrer sarkastischen Strenge: Wenn Konrad über Jugoslawien rede, fühle sie sich in Europa. Wenn die Deutschen sich über Ost und West streiten, spüre sie die Provinz. »Deutschland ist mit der Vereinigung kleiner geworden.« Und Konrad seinerseits wiederholte sein ironisches Wort: Er sei dankbar, daß es »kein West-Ungarn gibt.« Was er zum Konflikt zwischen Serben und Kroaten und den Tschechen und Slowaken sagte, trifft wohl auch die innerdeutschen Querelen: »Es verwundert, wie die Völker, wenn sie nur ein bißchen Unterschied haben, es schaffen, eine derart kompakte Identität zu machen, um sich zu hassen. Wir brauchen wohl einen nahen Feind, in der gleichen Wohnung.« [wer eine identität hat, braucht nicht zu hassen. sezza] Klaus Hartung