Flaubert nicht die Augen verbinden

Chabrols Verfilmung der „Madame Bovary“: bescheiden, gelungen  ■ Von Elke Schmitter

Erst am Schluß streckt sie die Zunge ganz raus. Sie ist schwarz und ekelhaft, und ihr entlang läuft eine dunkelblaue Flüssigkeit, vermutlich eine Tintenpatrone Königsblau, arsengelöster Magensaft. Es ist zum Sterbenwollen, und schließlich stirbt sie auch, unter Qualen und Krämpfen, mit schweißnassem grauem Gesicht; der letzte Kuß gilt dem Herrn Jesus.

Zuvor hat sie die Zunge anders rausgestreckt, die Lippen anders geschürzt und gespitzt; man sah ein rosafarbenes Fleischband, das wollüstig in ein Likörglas fuhr; man sah eine zarte Zungenspitze, die kokett und eifrig einen Nadelstich benetzte: kleine Attacken auf die Schicklichkeit mit den Waffen einer Klosterschülerin; verschlagene schnelle Angebote an den Mann, der sie entführen sollte aus der Langeweile: Charles Bovary, hilfloser Held einer fehlgeschlagenen Romanze.

Die Zunge kommt im Buch ebenfalls vor; eins der zahlreichen Angebote, die Flaubert den aufmerksamen LeserInnen macht: keine Symbole, sondern Tatsächlichkeiten, in denen eine Geschichte steckt; keine Metaphern, sondern getreu berichtete Details, die alles verraten. Auch Charles Bovary (in manchen deutschen Übertragungen gar nicht unpassend ,Karl‘ geheißen) sieht das Detail und ist verwirrt: Es schlägt ihn in Bann, aber er entschlüsselt es nicht. Es verrät ihm nur, daß diese junge Frau, die einen so schicklichen Eindruck macht, die sich im weißen Kleide so anmutig und zierlich zu bewegen weiß, die bei den Nonnen zur Sittsamkeit erzogen wurde, daß diese junge Frau mit dem marmornen Teint und den seltsam kühlen Zügen aus Fleisch und Blut ist, wie er selbst. Und er begehrt dieses Fleisch, wenn auch mit Zärtlichkeit und schüchtern — so schüchtern, daß er den Vater seinen Antrag machen läßt und auf dem Acker wartet, bis die Fensterläden aufgehen zum Zeichen ihrer Zustimmung. Die Geste, mit der er sich beim Warten eine Zigarette entzündet, paßt ganz und gar nicht zu ihm: eine zerfahrene Bewegung, die einen Bourgois zitiert oder gar einen Edelmann; eine Bewegung jedenfalls, die mehr Lässigkeit braucht, als er im Leben je aufbringen wird. Es ist das einzige Mal im Film, daß er raucht: Man wird sich an seine Unbeholfenheit erinnern bei jener aristokratischen Eleganz, mit der sich der erste Geliebte seiner Frau ein Zigarillo ansteckt, um mit Wohlgefallen noch einmal den Brief zu prüfen, mit dem er ihr den Abschied gibt.

Charles Bovary hat Pech. Er hatte Geschmack und Stil genug, sich in eine Frau zu verlieben, die es zum Höheren drängt; aber sein Geschmack und Stil reichen nicht aus, sie auch zu halten. Die biedere Gemütlichkeit, die er ihr bieten kann, die wohlanständige Sicherheit seiner Landarztexistenz, gegen die sie die Langeweile auf dem Bauernhof eingetauscht hat — was bedeutet das schon gegen ihre hochfliegenden Träume, entzündet an einem einzigen Abend beim Marquis von Andervilliers, zu dem das Paar Bovary einmal zu einem Ball geladen war?

Auf der Fahrt zurück von diesem Fest, bei dem Emma die Luft der großen feinen Welt hat atmen dürfen, findet sie eine Zigarettentasche, die einer Kutsche entfiel: die des Vicomtes, mit dem sie einen Walzer tanzte, den sie ihrem Mann verboten hat. „Mach dich nicht lächerlich“, verwies sie ihn streng, „Man würde dich boß auslachen. Bleib du nur ruhig sitzen! Übrigens schickt sich das viel besser für einen Arzt.“ Diese Zigarettentäschchen mit Monogramm hütet sie als eine Reliquie, ist ihr ein größerer Schatz als ihr Brautstrauß: die einzige materielle Verbindung zu der Sphäre, zu der sie gehören will, der einzige Beweis, das sie einmal im Leben glücklich war. Die Bedenkenlosigkeit und Brutalität, mit dem sie zu ihrem Mann auf dem Kutschbock sagt: „Dies war der glücklichste Tag in meinem Leben“, dieses Zitat nimmt der Film auf. Auf das Detail mit dem Etui verzichtet er (ohne das Motiv zu vernachlässigen) — wie auch auf seine inverse Entsprechung im Buch: der Absagebrief an Leo, der, in Fetzchen zerrissen, aus der geschlossenen Kutsche geworfen wird, in der sie ihrem zweiten Liebhaber zum ersten Mal zu Willen ist.

Es ist eine der größten Leistungen Chabrols, das er verzichten kann. Was im Buch, in dieser sehr langen Erzählung, gleichsam versteckt ist, aber ein unwiderstehliches Angebot für jede Verfilmung darstellt — die leckende und schließlich rausgestreckte Zunge, das Etui und seine Entsprechung, die Gegenläufigkeit der Reden während der Landwirtschaftsausstellung und in der Kathedrale — läßt er teilweise ungenutzt. Er nimmt auf, was immer ihm dienlich erscheint, aber er verkürzt ein langes Buch nicht zu einem kurzen Lehrstück, er respektiert den Zuschauer, wie Flaubert den Leser respektierte.

Madame Bovary ist auch ein großartiges Buch, weil es sich nicht entscheiden will. Natürlich ist Emma ein Opfer; ein Opfer der schlechten Romane, der Unsicherheit des Bürgertums und der Provinz, der patriarchalischen Doppelmoral, der Listen des Wucherkapitals etc etc. Aber sie ist auch Person, von Anfang an und bis zum Schluß: geplagt von den eigenen Leidenschaften und Süchten, von Narzißmus und Größenwahn, gerüstet mit Snobismus und Verschlagenheit. Keine Einladung zur Identifikation, kein williges Objekt sentimentaler Projektionen, aber ein Mensch, der um sich schlagend untergeht und bei dem man versteht, daß es nicht anders kommen konnte. Daß Chabrol es geschafft hat, genau das zu retten — diese eigentümliche Kühle des Romans, die auch in seiner artifiziellen Sprache liegt und Ausdruck der Einsicht ist, daß in jeder Biographie die Verzahnung von Innen und Außen, von Konditional und Präsens, von Ursache und Wirkung das ist, worauf es ankommt — daß es ihm gelungen ist, diese Einsicht zu retten trotz Bratschenmusik und Bratenrock und Laubengrün und Spitzennachthemd: Das ist eine ungeheure Überraschung und eine ungeheure Leistung.

Die Schauspieler sind großartig. Man kann es nicht schlichter sagen, aber es ist die schlichte Wahrheit. Jede Literaturverfilmung kämpft mit den Erwartungen der Leser, kämpft streng genommen gegen sie: Die Bilder auf der Leinwand müssen die eigenen löschen, sonst haßt man den Regisseur um den Betrug an der eigenen Phantasie, die so schwer wiederzufinden ist. Chabrol hat sich bemüht, den Roman so genau wie möglich zu bebildern, und es ist ihm vortrefflich gelungen. Isabelle Huppert zeigt ein Gesicht, das wie geschaffen ist für diese Rolle, und je weniger sie damit anstellt, um so besser bekommt es dem Film. Ihre Geliebten Rudolf und Leo verkörpern perfekt die aristokratische und brutale Lässigkeit, die kleinbürgerliche, romantisch entflammbare Unsicherheit, an der Emma zugrunde geht. Der Apotheker Homais, diese aufgeklärte Nervensäge; der klumpfüßige Hippolyt, dieser Ausbund hilfloser Blödigkeit; der rotbackige Pfarrer, dieses munter genügsame Bäuerlein; der Händler und Wucherer Lheureux, dieser tückische Schleimer und Damenmann — all diese Figuren der normannischen Provinz zeigt dieser Film so, daß man Flaubert nicht die Augen verbinden müßte.

Natürlich ist der Film entsetzlich brav, natürlich entspricht er in nichts dem Buch, wo es einen Aufbruch bedeutet: den Bruch mit der Tradition, die übergroße Anstrengung, die Flauberts Schreiben zugrunde lag, die artifizielle Qualität des Textes. Vielleicht ist Clockwerk Orange das einzige Beispiel für eine avantgardistische Literaturverfilmung, für ein zweites Kunstwerk neben dem ersten. Und sicher ist es vernünftig, daß Chabrol auf das Scheitern verzichtet hat, für das es genügend Beispiele gibt: das Scheitern an dem Versuch, in einem zweiten Medium denselben Bruch mit der tradierten Ästhetik zu versuchen. Flaubert ist unübersetzbar, auch in den Film. Hat man sich aber einmal damit abgefunden, die ersten mißtrauischen Minuten überstanden, dann sind diese Einwände für zweieinhalb Stunden getrost zu vergessen: Dann sieht man, daß diese Bescheidenheit zu dem größtmöglichen Erfolg geführt hat.

Chabrol versucht zu retten, was zu retten ist: Er übernimmt die Erzählerstimme, die den Verlauf kommentiert, wo er dem Film nicht zutraut zu genügen. (An diesen Stellen erkennt man, wie gut dieser Film ist, weil er diese Distanznahme von seiner eigenen Erzählart nicht einmal braucht.) Er läßt die Schauspieler, wo das Buch es vorgibt, Selbstgespräche führen. Und auch hier überläuft es einen ein wenig, weil es auch dieser Selbsterklärung nicht bedarf. Chabrol erreicht den ihm eigenen Gipfel, wenn er sich ganz auf sich selbst verläßt: auf seine Mittel des Films.

Den ersten Kuß tauschen Emma und ihr späterer Geliebter Leo auf der Haut von Emmas Tochter: Leo, der sich verabschieden will für lange Zeit, bittet, der kleinen Berthe einen Abschiedskuß geben zu dürfen. Das Kind wird von dem Mädchen gebracht, Leo nimmt es in die Arme und hält es hoch und gibt ihm einen Kuß auf den äußersten Winkel der Wange, fast schon den speckigen Kinderhals. Ein Kuß mit Leidenschaft und keineswegs für ein Kind gedacht; ein langer, heftiger Kuß, der seine erotischen Wünsche verrät. Und Emma nimmt das Kind aus seinen Armen entgegen, lächelt es glücklich an und küßt es auch: natürlich auf dieselbe Stelle, und man weiß, die ist noch feucht. Dann wird das Kind dem Mädchen übergeben: „Bring es weg!“ und, wieder allein, tauschen die beiden einen seriösen Händedruck. Das Kind hat seine Schuldigkeit getan, es war nichts als Matrize für den verbotenen Kuß. Chabrol hat in dieser kurzen Szene alles gezeigt — die verschämte, verlegene Leidenschaft des verhinderten Paares und ihren verlogenen Ausweg.

Claude Chabrol: Madame Bovary, mit Isabelle Huppert, Jean-Francois Balmer, Lucas Belvaux; Schnitt: Monique Fardoulis; Kamera: Michel Thiriet. 2 Std. 20 Min. Frankreich 1991.