DEBATTE
: Requiem auf die soziale Phantasie

■ Auf der Suche nach dem dritten Weg — jenseits der Kapitalaristokratie

Wenn die in Deutschland amtierende politische Klasse in den letzten eineinhalb Jahren eines geschafft hat, dann ist es die Einäscherung aller sozialer Phantasie. Das Ende der Utopie — nicht weil es daran keinen Bedarf mehr gäbe, nicht weil wir der Utopie nicht mehr bedürften als „Wärmestrom“ der Geschichte, sondern weil sie im „Kältestrom“ der obwaltenden Kleingeistigkeit ersoffen ist. Nun ist sicher nicht jede Utopie notwendigerweise eine sozialistische. Doch diejenigen, die in den letzten 200 Jahren die Menschen im Kopf, im Herzen und auf der Straße bewegten, hatten doch wenigstens wichtige sozialistische Einsprengsel. Beispielsweise das der Eigentumsfrage bzw. die Gegnerschaft zu der an das private Eigentum an Produktionsmitteln geknüpften Verfügungsgewalt über andere Menschen. Alle Sozialreformer und erst recht alle sozialen Utopien standen dem Privateigentum an Produktionsmitteln oder zumindest dessen Konzentration in wenigen Händen kritisch bis feindlich gegenüber. Die Sozialisten aller Schattierungen sahen darin sogar das Grundübel der kapitalistischen Wirtschaftsweise, an dem diese auf kurz oder lang notwendigerweise scheitern würde.

Doch schon lange weiß fast jeder, daß die Verstaatlichung des Eigentums an den Produktionsmitteln keineswegs eine Vergesellschaftung im Sinne einer Demokratisierung der Verfügungsgewalt über dieselben mit sich bringt, sondern eher das Gegenteil. Aber dafür, daß das ein Irrweg war, dafür ist die Macht der Deutschen Bank und anderer Großaktionäre oder der Top-Manager nicht weniger problematisch und gefährlich. Also suchten wir schon seit langem nach einem dritten Weg — nicht zwischen Sozialismus und Kapitalismus, sondern jenseits der Alternative Verstaatlichung oder Kapitalaristokratie.

Was die Arbeitnehmer unternehmen können

Die Treuhand übt derzeit treuhänderisch für den Staat die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel in der ehemaligen DDR aus — für einen Staat, der im Unterschied zum SED- Regime demokratisch legitimiert und auf Demokratie verpflichtet ist. Könnte das nicht eine ideale Voraussetzung für eine Demokratisierung der Verfügungsgewalt über die materiellen Lebensgrundlagen der Menschen im Osten der Republik sein? Es gab und gibt eine Reihe von Vorschlägen, wie die Treuhand mit der ihr zugefallenen Macht hätte umgehen können und müssen, wenn man Wirtschaft nicht als exterritorial zur Demokratie begreift: Sanierung vor Privatisierung, Dezentralisierung der Treuhand, Übertragung des Eigentums an den Unternehmen an die Belegschaften „zur gesamten Hand“, aktive Förderung von Genossenschaften etc.

Nichts davon passierte und passiert — und nun diskutieren wir also darüber, wie die Arbeitnehmer etwas unternehmen können, wenn die Unternehmer dies nicht tun. Also: sie könnten beispielsweise auf einen Teil möglicher Lohnerhöhungen verzichten und diesen investiven Zwecken im Osten zuführen. Solidarität gibt's nun mal allenfalls nur unter denen, die von ihrem eigenen Lohn abhängen. Und die Kraft der Solidarität könnte schon einiges bewegen:

Reinhard Bispink vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut des DGB hat ausgerechnet, daß immerhin fünf bis sechs Milliarden DM in einen Fonds fließen könnten, wenn sich die Beschäftigten in der Alt-BRD von einer z.B. sechs- prozentigen Lohnerhöhung nur fünf Prozent auszahlen ließen und den Rest einem „Solidaritätsfonds-Ost“ zukommen ließen. Ein solcher Fonds könnte durch Kredite seine Mittel leicht verzehnfachen. Und da Investoren in Ost-Deutschland nur ein Drittel ihrer Investitionssumme selbst aufbringen müssen — den Rest zahlt der Staat (aus Mitteln der Steuererhöhung auch an Daimler Benz, BASF...) —, stünde immerhin ein Volumen von 150 Mrd. DM für sinnvolle Investionen in den neuen Bundesländern zur Verfügung. Es spricht auch nichts dagegen, Anteilscheine an diesem Fonds auszugeben. Problematisch wird es allerdings, wenn diese Anteilscheine zu marktüblichen Konditionen verzinst werden sollen. Schwierig aber durchaus bewältigbar sind die Details der Fonds-Konstruktion und -Verwaltung.

Den Gewerkschaften werden in ihren nächsten Tarifrunden weitere Strophen des Liedes vom Teilen gesungen werden. Sie wären nur gut beraten, wenn sie sich frühzeitig selbst Gedanken über den Text machen würden. Und sie werden sich auch Gedanken machen müssen, ob sie ihre Kriterien von Wohlstand und Fortschritt nicht mindestens erweitern, wenn nicht sogar grundsätzlich revidieren müssen. Ist es nicht tatsächlich an der Zeit, Wachstum und Produktivitätszuwächse in anderer Weise zu verteilen, als immer nur in Form von Geld für noch mehr Autos, noch mehr Videorekorder, noch mehr Konsum? Immerhin geriet in den letzten Jahren die Zeit als Maßstab von Lebensqualität ins gewerkschaftliche Blickfeld. Aber sie scheint auch schon wieder daraus verschwunden zu sein, denn von Arbeitszeitverkürzung und flexibler Arbeitszeitgestaltung ist z.B. im großen tarifpolitischen Zukunftsentwurf der IG Metall, der Tarifreform 2000 nicht mehr die Rede. Dabei ist eine Neubelebung der Diskussion um Arbeitszeitverkürzung einerseits vor dem Hintergrund der Arbeitsmarktsituation im Osten und der sich bereits wieder verschlechternden Lage im Westen längst überfällig. Im übrigen könnte der oben angesprochene Fonds durchaus auch einen Beitrag zur Finanzierung von (evtl. befristeten) Arbeitszeitverkürzungen in Ost und West leisten.

Der Investivlohn wirft wichtige Fragen auf

Wenn die Beschäftigten Teile ihres den Arbeitgebern abgerungenen Anteils am Wachstum und den Produktivitätszuwächsen nicht konsumieren, dann ließen sich daraus nicht nur weitere Arbeitszeitverkürzungen finanzieren, sondern eben auch volkswirtschaftlich sinnvolle Investitionen: und zwar nicht nur im Osten, sondern beispielsweise auch in soziale Dienste oder kulturelle Einrichtungen in Ost und West. Es gibt dazu eine Reihe von Modellen und Plänen.

Aber wenn wir die Debatte, die Ulf Fink und Wolfgang Thierse angezettelt haben, doch aufgreifen sollten, dann sollten wir einen Fehler, den alle Modelle alternativer Verwendung von Produktivitätszuwächsen und Wachstum belastet haben, nicht machen: Wir sollten die Debatte nicht oder jedenfalls nicht vorrangig unter dem Stichwort „Vermögensbildung“ führen, und wir sollten uns auch nicht einbilden, daß wir mit dieser Debatte die „Aufhebung der bisherigen Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft in einem dritten Sinn“ (Fink) betreiben könnten.

Wenn denn tatsächlich die Gewerkschaften und Beschäftigten sich bereitfinden würden, einen Teil des Ergebnisses der nächsten Tarifrunden statt dem Konsum der Investition oder der Arbeitszeitverkürzung zukommen zu lassen: was sind schon fünf bis sechs Mrd. DM, die da maximal zusammenkommen, gegen 670 Mrd. DM, die laut Deutscher Bundesbank schätzungsweise an liquiden bzw. leicht mobilisierbaren Geldanlagen bei den westdeutschen Produktionsunternehmen herumliegen? Es bleibt die Frage, wie dieses Geld in den Osten transferiert werden kann — auch hier könnte Erinnerung die soziale Phantasie beflügeln, Stichwort: Investitionslenkung —; es bleibt die Frage nach einem vernünftigeren und effizienteren Umgang der Treuhand mit dem ihr zugefallenen Vermögen des Volkes der ehemaligen DDR; es bleibt die Frage nach der Demokratisierung der Verfügungsgewalt über die materiellen Lebensgrundlagen der Menschen; es bleibt auch zumindest die Frage nach der demokratischen Kontrolle des Privateigentums an den Produktionsmitteln, wenn wir denn schon (vorläufig?) aufgegeben haben, es abzuschaffen.

Der Investivlohn trägt zur Lösung dieser Fragen nichts bei. Aber immerhin kann er dazu beitragen, daß sie endlich wieder gestellt werden. Ingrid Kurz-Scherf

Die Autorin, ehemals Leiterin der Abteilung Tarifpolitik beim DGB und bis vor kurzem Staatssekretärin im Ministerium für Arbeit, Soziales, Frauen und Gesundheit in Brandenburg, lebt in Berlin. Ein Interview mit dem stellvertretenden DGB-Vorsitzenden Ulf Fink (CDU) zum Themenkomplex findet sich in der taz vom 4.10.