Vom Präventivschlag zum Wettlauf

■ Gorbatschows Abrüstungsvorschläge eröffnen neue Perspektiven für die amerikanische Innenpolitik

Eigentlich war George Bushs umfassende Abrüstungsinitiative in der vergangenen Woche als entwaffnender Präventivschlag geplant gewesen. All die Waffenprogramme, die entweder militärisch überflüssig geworden oder politisch nicht mehr durchzusetzen waren, wurden vom US-Präsidenten dem zu erwartenden Ruf nach einer Reduzierung der Arsenale geopfert. An der strategischen Überlegenheit der US-Streitmacht und an den Modernisierungsprogrammen für die nächste Waffengeneration, so der Plan, sollte allerdings nicht gerüttelt werden.

Doch spätestens seit Gorbatschows jüngsten Vorschlägen im nun begonnenen Abrüstungsrennen wird den Militärplanern im Pentagon eines klar: Die diplomatische Vorwärtsverteidigung erweist sich als ebenso fragwürdig wie ihr militärisches Pendant. Die Abrüstungsvorschläge scheinen eine neue Eigendynamik anzunehmen, die selbst sichergeglaubte Rüstungsprojekte unter sich zu begraben droht. Plötzlich haben die Demokraten im Kongreß erkannt, daß sich mit starken Abrüstungstönen vorzüglich Wahlkampf machen läßt. Wo selbst George Bush „keine realistische Bedrohung mehr“ durch die Sowjetunion zu erkennen vermag, wird jetzt statt der Verteidigung von Sternenkrieg und Tarnkappenbombern das Eintreten für die Friedensdividende zur patriotischen Pflicht. Denn wer will hier noch jährlich 600 Millionen Dollar für das Patrouillieren der Weltmeere durch ein gutes Flugzeugträger-Dutzend bezahlen, 865 Millionen Dollar für einen technisch unausgereiften Bomber berappen oder astronomische Forschungsmittel für die Entwicklung des nächsten Angriffsunterseebootes zur Verfügung stellen, wenn sich der Feind vor den eigenen Augen auflöst?

Selbst demokratische Rüstungslobbyisten wie Senator Sam Nunn oder der „House“-Abgeordnete Les Aspin wollen nun den vorgesehenen Rüstungsetat von 291 Milliarden Dollar (500 Milliarden DM) drastisch beschneiden — selbst wenn dabei einige ihrer langjährigen Lieblingsprojekte abgeschossen werden. Kurzum, George Bushs Abrüstungsinitiative und Gorbatschows weiterreichende Antwort werden die US- Innenpolitik in den nächsten Monaten und Jahren ganz nett durcheinanderwirbeln.

Makulatur

Als erstes wird das im letzten Jahr zwischen Bush-Administration und dem Kongreß mühsam ausgehandelte Haushaltsabkommen zur Makulatur. Der Pakt sah eine Reduktion des Verteidigungsbudgets bis 1995 um ein Viertel vor, verbot aber dabei die Umschichtung von Steuereinnahmen, Militär- und anderen Ausgaben. Das von George Bush gewünschte Einfrieren dieser Haushaltsposten — und damit ihrer politischen Gewichtung — bis nach den Wahlen im November 1992 dürfte angesichts der neuen Abrüstungsvorschläge hinfällig geworden sein.

In seiner ersten Reaktion nannte Präsident Bush den sowjetischen Abrüstungsvorschlag „eine gute Nachricht für die ganze Welt“. Ob dies auch eine gute Nachricht für seinen bevorstehenden Wahlkampf darstellt, wird vor allem davon abhängen, in welchem Maße die demokratischen Präsidentschaftskandidaten die jetzt anstehende Debatte über das neue Gleichwicht von Innen- und Außenpolitik für sich zu nutzen wissen. In den USA gibt es nun die Chance eines politisierten Wahlkampfs, wie er vor wenigen Monaten noch undenkbar erschien: als inhaltliche Debatte über die innenpolitischen und nationalen Prioritäten Amerikas. Rolf Paasch, Washington