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»Kein Kondom und 180 Stundenkilometer«

■ Das Prostituiertenprojekt »Hydra« stellte »die erste Freierstudie Deutschlands« vor/ Ergebnis: Freier sind normale Männer

Berlin. Jeder Mann ist ein potentieller Freier. Was viele Frauen schon lange vermuteten, wird jetzt durch die »erste Freierstudie Deutschlands und vielleicht sogar Europas« erhärtet. Nirgendwo sonst, so das Autorinnenkollektiv des Prostituierten- Selbsthilfeprojektes »Hydra«, seien Männer so intensiv zu diesem Thema befragt worden wie in ihrer unter wissenschaftlicher Begleitung erstellten Untersuchung. Freier — das heimliche Treiben der Männer ist ab nächster Woche im Buchhandel erhältlich.

Das wenig überraschende Ergebnis der »Tiefeninterviews« bei 38 Probanten: Ob jung oder alt, ob Arbeiter oder Manager oder Richter, ob verheiratet oder unbeweibt — Männer aller Art und Spezies bevölkern die Bordelle. Die Hälfte der Interviewten lebte zum Zeitpunkt der Befragung in fester Beziehung. Zu Prostituierten gehen viele, weil sie den »schnellen, unkomplizierten Sex ohne Verpflichtungen« schätzen, aber auch die »Abwechslung«, den »fehlenden Leistungsdruck« und »die Möglichkeit, eine passive Rolle einzunehmen«.

Alles in allem entspricht das Sexualverhalten der Freier laut Hydra im großen und ganzen dem der durchschnittlichen männlichen Bevölkerung«. Manche Männer gehen allerdings wohl nur deshalb in den Puff, weil »gängige Praktiken wie zum Beispiel ‘französisch‚ in privaten Beziehungen mancher Freier tabuisiert sind. An der Sprachlosigkeit in der Beziehung scheinen beide Partner beteiligt zu sein, und die Männer lösen dieses Dilemma für sich damit, daß sie zu Prostituierten gehen.« Neben Sex hoffen viele Kunden außerdem »stillschweigend« auf die Befriedigung weiterer Bedürfnisse nach »Zärtlichkeit, Nähe, Streicheln, Kuscheln, nach Unterhaltung und Muße«.

»Überrascht« war das Autorinnenteam eigentlich nur von einem Umstand: »Für die meisten Männer war der Erstkontakt mit einer Prostituierten gleichzeitig der erste sexuelle Kontakt zu einer Frau überhaupt«. Daß mitten im Zeitalter der sexuellen Revolution »die Jungmännlichkeit in einem Club abgelegt wird«, das sei doch schon erstaunlich. Für zwei Drittel der Interviewpartner war ihr erstes Erlebnis mit einer Hure übrigens positiv, nur gut ein Drittel empfand die Atmosphäre als »unpersönlich« und »geschäftlich«.

Durchschnittlich und normal scheint aber auch die in den Interviews zutage tretende Doppelmoral zu sein. Zwar wurde die Frage, ob Prostituierte im Hinblick auf Aids und Geschlechtskrankheiten ein Infektionsrisiko darstellen würden, von der Mehrheit der Befragten verneint: Prostituierte wüßten schließlich mit Kondomen professionell zu arbeiten. Doch in den privaten Liebesbeziehung, so bekamen die Hydra-Frauen heraus, »würden selbst Männer, die bei Prostituierten widerstandslos das Gummi benutzen, lieber das Bett verlassen, als ein Kondom zu gebrauchen.« Zudem fanden die meisten Befragten die diskriminierenden Gesundheitsuntersuchungen für die Frauen auf dem Strich vollkommen in Ordnung. »Die Pflichten der Prostituierten sind heute immer noch die Freiheiten der Freier«, kommentierten die Autorinnen. »Offensichtlich sind die Grundrechte der Männer in Deutschland folgende: Kein Kondom und 180 Stundenkilometer auf der Autobahn.« Ute Scheub

Freier — Das heimliche Treiben der Männer , herausgegeben vom Prostituiertenprojekt Hydra, Verlag am Galgenberg, Hamburg, 271 Seiten, 39,80 DM.

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