Die Charité im Focus der deutschen Vereinigung

An der einstigen Ostberliner Renommierklinik prallen ostdeutsche Verdrängungsbereitschaft und westdeutscher Eroberungsdrang aufeinander/ Mit der Entscheidung für den Erhalt der drei Berliner Universitätskliniken ist es nicht getan  ■ Aus Berlin Martina Habersetzer

Die monatelang hochgekochte Debatte um den Fortbestand der Berliner Universitätskliniken scheint beigelegt zu sein. Alle Zeichen deuten darauf hin, daß das Klinikum Steglitz, Rudolf Virchow und die Ostberliner Charité ihren universitären Status behalten werden. Zwar wird der Berliner Senat erst am Dienstag seine endgültige Entscheidung verkünden, doch sowohl der Wissenschaftsrat wie auch Berlins Gesundheitssenator Luther und sein Kollege, Wissenschaftssenator Erhardt (beide CDU), haben sich gegen die Umwandlung einer der Universitätskliniken in ein städtisches Haus ausgesprochen.

Somit können die rund 5.000 Beschäftigten der Ostberliner Charité, deren weitere Existenz als Universitätsklinikum auf recht wackligen Füßen stand, erst einmal aufatmen. Unermüdlich hatten sie in den vergangenen Wochen wieder und wieder gegen Überlegungen des Senats demonstriert, die Charité aufzulösen und dem Westberliner Universitätsklinikum Rudolf Virchow (UKRV) anzugliedern.

Nun hat der Wissenschaftsrat als regierungsunabhängiges Ländergremium ein Machtwort gesprochen. Unter Berücksichtigung der Perspektive eines gemeinsamen Landes Brandenburg-Berlin werde mit drei Kliniken und einer Relation von 7,8 Universitätsbetten auf 10.000 Einwohner ziemlich genau der Bundesdurchschnitt von 7,6 getroffen. Damit weise Berlin weder in der Krankenversorgung noch im Ausbildungsbereich medizinische Überkapazitäten auf. Doch auch, wenn die Beschäftigten der Charité aufgrund dieser Stellungnahme erstmal zur Ruhe kommen dürften — durch die Entscheidung für die Charité als drittes Berliner Universitätsklinikum allein ist das Damoklesschwert über ihren Häuptern noch lange nicht verschwunden.

Ruf ramponiert

Denn es ist der konfliktreiche Vereinigungsprozeß der Ost- und Westdeutschen, der sich in den Geschehnissen in und um die Ostberliner Charité widerspiegelt. In der einstigen Renommierklinik der DDR wimmelte es nur so von Kräften der Staatssicherheit, erfuhr die aufgeschreckte Öffentlichkeit im Laufe der letzten Monate. „Teufel in weißen Kitteln“, „Organ-Räuber“ und „Seilschaften des Todes“, so hieß es in sensationslüsternen Boulevardblättern, trieben in der „Horror-Klinik“ der einstigen DDR ihr Unwesen. Im Auftrag westdeutscher Pharma-Unternehmen sollen hier einst Medikamentenversuche an Patienten unternommen worden sein. Zu Dopingzwecken soll ein Charité- Arzt jungen Mädchen männliche Hormone eingespritzt haben. Vier Patienten seien 1988 zwecks Organspende durch die ganze DDR in die Charité transportiert worden, ohne daß deren Tod vorher eindeutig festgestellt worden wäre. Der gläserne Patient war in der Charité nicht mehr Utopie, sondern erschreckende Wirklichkeit — jederzeit habe die Stasi Zugriff auf Patientenakten gehabt. Und ein weiteres Mal geriet die Charité in die Schlagzeilen, als dort Anfang des Jahres ein Patient durch eine Blutkonserve mit HIV infiziert wurde.

Die Klinik wurde durch diese Vorwürfe nachhaltig erschüttert — und westdeutschen Medizinern und Wissenschaftlern kam und kommt das ganz und gar nicht ungelegen. Wie heißt es in der Empfehlung des Wissenschaftsrats: „Die Leitungspositionen (in der Charité) sind grundsätzlich zur Disposition zu stellen. Der Wissenschaftsrat erwartet, daß die Leitungsfunktionen in Wissenschaft und Verwaltung in nicht unerheblichem Umfang neu zu besetzen sind.“ Freie Plätze in Wissenschaft und Forschung sind in Deutschland nicht gerade üppig — und nun wird klar, warum sich westdeutsche Mediziner angesichts der Skandale um die Charité die Hände reiben. Sind sie es doch, die die notwendigen internationalen Kontakte haben, die ohne belastende Vergangenheit über das nötige Wissen verfügen, um sich für eine Anstellung am Universitätsklinikum Charité zu qualifizieren. Ihren Mitarbeiterstab bringen sie gleich mit — und die noch an der Charité verbliebenen —, weil nachgewiesenermaßen ohne Stasi- Vergangenheit. Ostdeutsche ÄrztInnen geraten wieder einmal ins Hintertreffen. Gerade weil sie nicht SED-Mitglieder waren, gerade weil sie nicht der Staatssicherheit zuarbeiteten, blieb ihre Reisefreiheit, die die internationalen Kontakte und das daraus resultierende Renommee überhaupt erst ermöglicht, in der Regel auf wenige Ausnahmen begrenzt. Angesichts des zu erwartenden Andrangs aus dem Westen wirkt der „Bonus“, den man laut Berliner Wissenschaftsverwaltung diesen Ärzten und Wissenschaftlern anrechnen will, nur wie ein mürbes Trostpflaster. Und auch die Tatsache, daß sich viele Vorwürfe als gegenstandslos erwiesen — die Charité war weder an Medikamenten- noch an Dopingversuchen direkt beteiligt — spielt plötzlich keine Rolle mehr.

Die noch verbliebenen Ärzte, Wissenschaftler und übrigen Angestellten der Ostberliner Charité stehen gefährlich weit oben auf der Abschußrampe — und nicht zuletzt tragen sie selbst dafür ein großes Stück Verantwortung. Auch wenn sie selber keine Zuträger waren — von den Aktivitäten der Staatssicherheit an der Charité haben sie gewußt oder es doch zumindest geahnt. Daß die besagten Patiententransporte zwecks Organtransplantation 1988 rechtlich nicht einwandfrei waren, war sowohl dem Dekan der medizinischen Fakultät, Harald Mau, wie auch dem Transplantationsmediziner Helmut Wolff lange vor der 'Spiegel‘-Veröffentlichung bekannt. Auch die Zugriffsmöglichkeiten der Stasi auf Patientenakten war den meisten Beschäftigten seit Jahren nichts Unbekanntes mehr.

Initiative zur Erneuerung

Doch anstatt selbst aktiv die Schleier der Vergangenheit zu lüften, reagieren die leitenden Mediziner nur auf Anschuldigungen von außen — abwehrend und meist noch verzögert. Parallel erreicht die interne Krise ihren Höhepunkt, Professoren und ihr Anhang belauern sich gegenseitig. Ärzte, die in der SED-Zeit benachteiligt wurden, wollen es nun ihren einstmals mächtigen Chefs heimzahlen. Bei ihrer Gründung im Herbst 1989 glaubte die Initiativgruppe „Charité-Erneuerung“ noch daran, daß leitende Vorgesetzte, die zu SED-Zeiten Studenten relegiert, Mitarbeiter unterdrückt, Kampfgruppen befehligt, Reisekader ausgesucht und kommunistische Parteigänger ohne fachliche Qualifikation befördert haben, zu ihren Taten und Überzeugungen stehen würden. „Erneuerungs“-Mitglied Wolfgang Kaufhold: „Wir haben uns geirrt. Die meisten wirklich Schuldigen haben keine Moral. Und sie hatten nie eine Überzeugung, außer der ihres Machtwillens.“

Statt tatsächlich die Vergangenheit aufzuarbeiten, also offensive Untersuchungen über die Geschehnisse in den letzten vierzig Jahren anzustellen und deren Ergebnisse auch der Öffentlichkeit mitzuteilen, entwickelt sich die Charité mehr und mehr zu einem Dschungel aus Beschuldigungen und Dementis, Erklärungen und Halbwahrheiten. Der Zwang zur Verdrängung scheint übermächtig.

Statt offensiv für Klarheit zu sorgen, stecken Beschäftigte den Medien versteckt Informationen zu. Wer nicht selbst agiert, der reagiert — mit eingezogenem Kopf, darauf hoffend, daß der Kelch namens Verantwortung doch an ihm vorübergehe. Und die Öffentlichkeit, angesichts dieses undurchdringlichen Dickichts unfähig zu differenzieren, verfährt — zu Recht? — nach dem einschlägigen Muster „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.“

Weder die liebgewordene These vieler Charité-Beschäftigter, daß hier alte Seilschaften die Kampagne gegen die Charité anfachen, noch die „In der DDR war alles verbrecherisch, unmenschlich oder wenigstens marode“-Haltung diverser westdeutscher Mediziner und Wissenschaftler darf davon ablenken, daß hier Ost und West die Verantwortung für die Vergangenheitsbewältigung und für die Zukunft der Charité tragen.

Die Berliner Klinik steht nicht allein für 40 Jahre Sozialismus, sie ist das international bekannteste deutsche Symbol für eine dreihundertjährige Medizingeschichte. Dessen sollte sich auch der Berliner Senat bewußt sein, wenn er sich — was zu hoffen ist — am Dienstag für den Erhalt der Charité als Universitätsklinikum entscheidet. Denn hier geht es nicht allein um die Beibehaltung des Status quo — der eigentliche Konflikt um die Charité basiert auf ostdeutscher Verdrängung und westdeutschem Eroberungsdrang als ein Stück aktueller deutsch-deutscher Geschichte.