Auf dem Weg der Bremer Juden in das Todesghetto von Minsk - nach 50 Jahren Schweigen

■ Das Minsker Ghetto war eines der größten in der Sowjetunion. 75.000 Juden aus Minsk und 19.000 deutsche Juden sind dort zwischen 1941 und 1943 ermordet..

„Am 28. Juni 1941 standen deutsche Panzer in den Straßen von Minsk. Ungefähr 75.000 Juden mit ihrem Kindern, die es nicht geschafft hatten zu fliehen, waren in Minsk geblieben.“

So beginnt einer der Abschnitte im „Schwarzbuch“. Dieses außergewöhnliche Werk, das sofort nach dem Krieg von einem großen Kollektiv sowjetischer Schriftsteller geschaffen wurde, erzählt von der Massenvernichtung der Juden auf dem von den „Hitlerfaschisten“ okupierten Territorium der Sowjetunion. Der Abschnitt trägt die Überschrift „Geschichte des Minsker Ghettos“. Er wurde auf der Basis der Erzählungen von Zeugen zusammengestellt, die diese Tage überlebt haben, und einer eingehenden Untersuchung von Tagebüchern, Briefen und Dokumenten, die sich auf die Geschichte des Minsker Ghettos beziehen.

Das sind ein paar Dutzend Seiten Text, die auf den ersten Blick trocken und leidenschaftslos erscheinen. Mit dokumentarischer Genauigkeit, präziser Angabe des Monats, ja des Tages, wird gewissenhaft die Geschichte der Errichtung des Ghettos festgehalten, seines Lebens und seines Unterganges.

„Auf Anordnung der deutschen Machthaber wurde die gesamte jüdische Bevölkerung verpflichtet, sich in einem dafür gegründeten jüdischen Komitee registrieren zu lassen, im Judenrat. Die Anordnung enthielt die Warnung, nichtregistrierten Juden werde ein einem Umzug die Wohnung verweigert. Bei der Registrierung wurde Name, Alter und Adresse notiert.

Am 15. Juli 1941 war die Registrierung der Juden beendet. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Juden unter Androhung der Erschießung angewiesen, auf Brust und Rücken gelbe Flicken in streng vorgeschriebener Größe (10 cm Durchmesser) zu tragen. Es wurde eine Verfügung erlassen, die Juden verbot, auf den zentralen Straßen zu gehen. Es wurde verboten, nichtjüdische Bekannte zu grüßen. Dann kam die Anordnung der deutschen Machthaber, ein Ghetto zu errichten.

Aus ihren angestammten Wohnorten zogen die juden in Massen fort, sie ließen ihre Wohnungen zurück, ihre Möbel, ihre Habe, und nahmen nur das Allernotwendigste mit. Transportmittel gab es nicht, sie trugen ihre Habe auf dem Rücken. Pro Person wurden ihnen 1,5 m2 Wohnraum zugewiesen, wobei die Kinder nicht mitgezählt wurden.

Die Umsiedlung ging nicht ohne Schikane ab: Für das Ghetto war ein streng eingegrenzter Stadtteil zugewiesen worden, aber sobald dort jemand einzog, wurde sofort eine neue Anordnung erlassen, die diese Straßen aus-und dafür andere einschloß.

Zwei Wochen lang, vom 15.-31.Juli 1941, zogen die Juden unter Qualen von einem Ort zum anderen. Am 1. August 1941 war die Umsiedlung der Juden abgeschlossen. Bei gemischten Ehen folgten die Kinder dem Vater: Wenn der Vater Jude war, gingen die Kinder mit ihm fort ins Ghetto, die Mutter blieb in der Stadt. Wenn der Vater kein Jude war, lebten die Kinder weiter bei ihm in der Stadt, die jüdische Mutter aber mußte fortgehen ins Ghetto. (...)

Im Herbst wurde der gleichförmige, routinemäßige Gang der Ereignisse plötzlich durchbrochen. Im Ghetto kamen aus dem Reich deportierte deutsche Juden an. Sie waren irgendwie eigenartig gekleidet, in Pelerinen mit Kapuzen, mal in rosa, mal in dunkelblau, mal in himmelblau, und alles aus dünnem Stoff, rechts auf die Brust waren sechszackige Sterne genäht. Sie sprachen nur deutsch, es waren Juden aus Hamburg, aus Berlin, aus Frankfurt ...

Sobald die Stachelrahtkette um die Wohnviertel, die nun zum Ghetto gehörten, geschlossen waren, begannen die Deutschen mit der schrittweisen Liquidierung der Gefangenen. Anfangs wurden sie aus dem Ghetto abtransportiert und in Gefängnissen oder vor der Stadt erschossen. Am 7. November 1941, am Jahrestag der Oktoberrevolution, kam es zum ersten blutigen Pogrom in den Straßen des Ghettos. Das Julipogrom 1942 war das schlimmste, vier Tage dauert die wilde Jagd auf Menschen, die sich in Kellern, in verborgenen Kammern und auf Dachböden versteckt hatten. Anfang Oktober 1943 waren nur noch 2000 Juden im Ghetto übriggeblieben. Am 21.Oktober 1943 wurde das Ghetto um letzten Mal umzingelt, alle Bewohner bis zum letzten auf Autos verladen und abtransportiert in den Tod.“

Warum schwiegen die weißrussischen Historiker über das Ghetto?

Das Minsker Ghetto ... was wissen die Einwohner unserer Hauptstadt davon? Praktisch nichts. Und woher sollten sie auch etwas davon lernen? Die in der Druickerei schon gesetzte Ausgabe des Schwarzbuches, das den oben zitierten Abschnitt über das Minsker Ghetto enthält, wurde 1948 vernichtet; damals begann im Land der Kampf mit den „vaterlandslosen Kosmopoliten“...Das wie ein Wunder unversehrt geblieben Manuskript des Schwarzbuches gelangte nach Israel, wo es auch 1980 in russischer Sprache erschien. In unserem Land wurde bislang weder das Schwarzbuch noch der Abschnitt „Geschichte des Minsker Ghettos“ gedruckt. (...)

Im Minsker Museum des „Großen Vaterländischen Krieges“ erzählen vom Ghetto nur einige vergilbte Fotografien und Dokumente, nach denen man sich unmöglich die Geschichte des Ghettos und das Schicksal seiner Gefangenen vorstellen kann. Über die Venichtung der Juden auf dem Gebiet der Stadt Minsk und der Republik schweigt die mehrbändige weißrussisch-sowjetische Enzyklopädie verschämt. In den Arbeiten weißrussischer Historiker, die dem Krieg gewidmet sind, wird über die Tragödie des Minsker Ghettos entweder nicht gesprochen oder spärlich und undeutlich. (...) An das Minsker Ghetto erinnert keine Gedenktafel an den Straßen und Plätzen ... Wie ist das möglich? Warum wird in Weißrußland, wo die ganzen Jahre von allen Tribünen Reden gehalten wurden über den Krieg, über die opfer, die in seinem Verlauf unser Volk gebracht hat, bis heute eine der schrecklichsten Tragödien, die während der schrecklichen Kriegsjahre auf weißrussischem Boden geschahen, mehr oder weniger totgeschwiegen?

Es scheint, eine erschöpfende Antwort für all das findet man in den althergebrachten „Sünden“, an denen ein bestimmter Teil unserer Gesellschaft schon lange leidet, im Antisemitismus, in der überheblich-herablassenden, manchmal auch geringschätzigen Beziehung zu der unter uns lebenden jüdischen nationalen Minderheit, ihrer Geschichte und Kultur.

Lohnt es sich, über das Schicksal irgendwelcher Juden zu trauern, die auf unserem Boden ermordet wurden? Sie sind doch „Fremde“, und das heißt, irgendwie nicht unsere Mitbürger. Diese barbarische Psychologie sitzt offensichtlich fest in den Köpfen unserer ideologischen und politischen Verantwortlichen, deren Schuld es ist, daß das Andenken an das Minsker Ghetto und seine Märtyrer einem schändlichen Vergessen preisgegeben wurde.

Freilich gibt es noch andere Gründe. Unter diesen muß man in erster Linie das argwöhnisch- mißtraische Verhältnis gegenüber denen nennen, die in Gefangenschaft waren, in den Hitlerschen Konzentrationslagern, im besetzten Gebiet. Dieses Verhältnis, das sich seit der Stalinzeit erhalten hat und offensichtlich nicht endgültig überwunden ist, betrifft Überlebende und Ermordete gleichermaßen.

Übersetzung: Eva Ehrenberg