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Der Stoff der Geschichte

Zum „Buch der Erinnerung“ von Péter Nádas  ■ Von Joachim Sartorius

Im Februar 1991 hielt Péter Nádas in Budapest die Laudatio zum 70. Geburtstag von Miklós Mészöly. Das hatte etwas Symbolisches: Der bedeutendste der jüngeren ungarischen Autoren ehrte den Vater der neuen ungarischen Literatur. Auch der Text, den Nádas verlas, handelte von einem Meister und seinem Schüler. Daß dieser Schüler mit einem großen und komplexen Roman, an dem er elf Jahre lang gearbeitet hatte, längst selbst Meister war, davon hatten wir bisher nur Gerüchte gehört, Splitter im Vorabdruck gelesen. Als das Buch der Erinnerung 1986 in Ungarn erschien, zog die 'NZZ‘ den Vergleich zu Flaubert und besprach den Roman als „osteuropäische Education sentimentale“. Ungarische Künstler, zu Gast in Berlin, berichteten mit Emphase von einem Buch, das sie auch auf Reisen mit sich führten und nie aus der Hand gäben (einmal zeigte mir die Frau des Komponisten Zoltan Jeney die mit Weinflecken übersäte Originalausgabe wie eine rare Edition der Bibel). Ein schmales LCB/DAAD-Bändchen In Gottes Hand gab bereits 1983 aus dem noch entstehenden Manuskript den Blick frei auf zwei Kapitel, Neugier anfachend, doch unbefriedigend, weil die Droge winzig war und aus ihrem Kontext gelöst. Nun endlich, nach vierjährigen Übersetzungsmühen Hildegard Grosches, liegt das Buch der Erinnerung in einer sensiblen und genauen deutschen Fassung vor, können wir die Probe auf seinen Ruf machen.

Der Auftakt ist einfach: Der Beginn einer durchkomponierten, 1.303 Seiten langen, großen Symphonie. Einer in Ungarn, vor drei Jahren aus Ost-Berlin zurückgekehrt, erinnert sich. Jeder Mensch besteht aus zehn, dreißig oder fünfzig Lebensepisoden, die er in Geschichten faßt und immer wieder erzählt, mehr oder minder detailbesessen oder verfeinert von der Imagination. Nicht anders scheint Nádas zu verfahren. Der namenlose Ich-Erzähler besinnt sich auf seine wechselnden Wohnungen in Berlin, auf seine Freundin, die Schauspielerin Thea Sandstuhl, und den Freund Melchior, den er liebt und der sich ihm schließlich durch die Flucht in den Westteil der Stadt entzog. Den Kern des Buches bilden die Gefühlsbeziehungen zwischen diesen drei Menschen. Thea liebt Melchior, der schwul ist. Der Erzähler liebt Melchior, der sich in einer gefrierenden Liebe immer mehr verschließt. Je näher Thea Melchior kommt, umso näher kommt der Erzähler Thea. Der eine begehrt durch den Körper des Dritten den anderen. Als sie zusammen eine Theateraufführung besuchen — der Besuch zieht sich durch mehrere Kapitel des Romans — werden die Themen von Annäherung, Verlangen, Liebe, Scham, Geschlecht und Körper in einer unerhört ausdauernden, Verwirrung und sinnliche Nähe stiftenden Sprache umkreist. Diese Dreierbeziehung ist die eine Ebene des Buches, die Zeit sind die 70er Jahre, die Orte Ost-Berlin und das Ostseebad Heiligendamm. Eine weitere Ebene bilden die Kindheits- und Jugenderinnerungen des Erzählers. Eine Fülle von Personen und Episoden tauchen in sich erweiternden, konzentrischen Kreisen auf: die engere Familie — der Vater, der vielleicht nicht sein Vater ist, Staatsanwalt und Kommunist; die kranke Mutter, die ihren aus dem Gefängnis entlassenen Liebhaber wieder empfängt und ihm, von ihrem Sohn heimlich beobachtet, ihre amputierte Brust zeigt; die mongoloide Schwester, der unter dem Schreibtisch des Vaters der „Held“ Stecknadeln in die Schenkel sticht und in die Scheide einführt; der vom Leben schon abgewandte Großvater; die Großmutter; dann die Mitschüler Kristian, Kálman und Prém; die Schulfreundinnen Hedi, Maja und Livia. Der Erzähler entdeckt sein „Anderssein“ in dem ambivalenten Verhältnis zu Kristian und den Wunsch, „wie die anderen zu sein“, das eigene Anderssein nicht mehr zu fühlen, in den kindlich-erotischen Spielen mit Maja. Er spaltet sich schon als Kind: in das geheime Leben des von Neugier auf das Unerkannte und Unberechenbare vorangetriebenen Ichs und eine nach außen gekehrte Selbstbeherrschung, eine „zaudernde Passivität“.

In diesem Zwischenbereich gelingt Nádas die eindringliche sprachliche Erfassung all der seelischen Mikrooperationen im Hirn seines Erzählers. Er atomisiert Zwischenregungen und Gefühlsverirrungen im Rückblick. Diese Kindheitserinnerungen bilden die zweite Ebene des Romans, der Ort ist die Umgebung von Budapest, die Zeit die 50er Jahre im stalinistischen Ungarn.

Doch schreibt der Erzähler nicht nur seine Erinnerungen. Er schreibt parallel dazu einen Roman, der zur Jahrhundertwende spielt und dessen Held sich auf den Schauplätzen seiner eigenen Liebesgeschichte — Berlin und Heiligendamm — bewegt. Der deutsche Schriftsteller Thomas Thoenissen ist der erfundene Doppelgänger. Auch hier eine Fülle von Personen: der Vater, der immer fremd geht; die leidende Mutter, die in ihrem Sohn Beistand sucht; Adel und Bourgeoisie in dem weiß erglänzenden, feinen, plüschigen Hotel in Heiligendamm. Auch hier Figuren, die eine Verdoppelung der Personen der „realen“ Geschichte sind. Auch Thoenissen ist in seinen erotischen Neigungen ambivalent. In der Schilderung der körperlichen Vereinigung mit seiner Verlobten Helene hat Nádas das am wenigsten düstere Kapitel seines Romans geschrieben; er feiert den Körper, die Sinnlichkeit; er unterkühlt nicht, wie wir, mit Worten die Lust, sondern heizt sie an. Immer wieder durchstößt er „das Häutchen“, das der Erzähler als „die Grenze zwischen der Realität und der ihr überlegenen inneren Wirklichkeit“ bezeichnet. Die Vereinigung, die Thoenissen mit Helene erlebt, ist Vollzug der nie vollzogenen Vereinigung des Erzählers mit Thea. In Heiligendamm fühlt sich Thoenissen zu dem jungen Hoteldiener Hans Baader hingezogen, der — in seiner homoerotischen Faszination — neben Kristian, den Jugendfreund, und Melchior, den Geliebten der Jetzt- Zeit, tritt.

Der Auftakt des Romans ist einfach. Dann verwirren und verweben sich mit großer Kunstfertigkeit die Personen und Zeiten. Wer erinnert sich? Der Leser muß sich orientieren, wenn das Ich immer wieder in eine andere Gestalt schlüpft. Im Vorspann zu seinem Werk zitiert Nádas Plutarch als Programm: „Es war meine Absicht, Erinnerungen zu schreiben, ein wenig wie Plutarch, parallele Erinnerungen verschiedener Personen zu verschiedenen Zeiten, und die verschiedenen Personen wären alle ich, ohne daß ich es wirklich wäre.“

Diesen Kosmos von sich verschränkenden Personen, Geschichten und Zeiten in allen Einzelheiten, die wieder in hundert Einzelheiten zerfallen, wiederzugeben, ist schier unmöglich. „Es gibt nichts, es gibt keine Geschichte“, sagt der Erzähler an einer Stelle, „wenn der krankhafte Zwang des Erinnerns unentwegt bei unbedeutenden oder als unbedeutend angenommenen Einzelheiten verweilt.“ Die Erinnerung, Nádas' Erinnerungsvermögen, bewahrt alles unbarmherzig auf. Sie ist die eigentliche Heldin des Buches. Und Augenblicke des Verlangens, der Erkenntnis, der Rache, der Abwehr, der Übergänge von tiefer Beglückung zu hellster Angst sind die Helfershelfer der Heldin. Nádas ist ein Meister des Innemachens dieser außergewöhnlichen Zustände, dieser Augenblicksblitze, weswegen wir leben. So spricht er vom Augenblick der Liebeserfüllung: „... es ist das Erfühlen des archaischsten Zustands des menschlichen Körpers, hinfort hat der Körper keine Geschichte, keinen Gott, er verliert seine Schwere, seine Umrisse, er sieht sich in keinem Spiegel und hat auch kein Verlangen danach, er wird zu einem einzigen, steil explodierenden, leuchtenden Pünktchen in der Unendlichkeit der inneren Finsternis.“ Diese innere Finsternis ist stets gegenwärtig. Keiner der Personen hat auf sicherem Boden Fuß gefaßt. Sie nehmen Dinge wahr, die sich nicht auflösen. Sie wollen sich vergewissern und werden zurückgestoßen. Sie sind vom Androgynen fasziniert, vom Undeutlichen und nicht Festlegbaren. Die Kinder hören „die Geheimsprache, die nur den Erwachsenen verständlich war, die Sprache der Vorsicht und des Mißtrauens, der ständigen Wachsamkeit und der Verdächtigungen.“ Das Zuhause ist „eine Hölle des Mangels“.

Wie jeder Mensch hat Nádas' Erzähler das Bedürfnis nach Erkennen und Besitzen, doch ist es bei ihm durch und durch bestimmt von dem leidenschaftlichen Wunsch, „eine andere menschliche Ganzheit zu besitzen, und dem damit verbundenen sinnlosen, bis zur Selbstvernichtung gehenden Wunsch nach Einswerdung.“ Im elften, zentralen Kapitel „Auf ein antikes Wandbild“ spekuliert Thoenissen, Nádas' Alter ego, über das römische Fresko „Musizierender Pan mit Nymphen“; es scheint ihm, als sei der Gegenstand der geplanten Erzählung identisch mit dem Gegenstand des antiken Bildes, „fließen doch die Geschichten von Apollo, Hermes, Pan und Hermaphroditos ebenso ineinander wie alles, was ich von mir zu erzählen vorhatte.“ Nicht Thoenissen, Nádas erzählt diese Geschichte, und es ist eine Geschichte des wechselseitigen und vielfältigen Verfalls, der unglücklichen Lieben, schließlich der Tode, Selbstmorde und Begräbnisse. Auch der Ich-Erzähler stirbt einen gewaltsamen Tod, von drei halbwüchsigen Motorradfahrern vorsätzlich überfahren, als er nach einem Bad in der Donau auf dem sandigen Ufer schläft. Man findet ihn mit zerschmetterten Beinen und offener Schädeldecke. Kristian, der alte Schulfreund, der mit sich einen Scheinfrieden geschlossen hat, Wirtschaftsstatistiker von Beruf, hat das Manuskript an sich genommen und nimmt aus zeitlicher Distanz und mit bemüht sachlichem Blick noch einmal einzelne Episoden der gemeinsamen Kindheit unter die Lupe, spekuliert über das „Anderssein“ seines toten Freundes, seine „ungewisse leibliche Abstammung“, sein verzweifeltes Verlangen nach „seelischer Identität“ und dem Aufgehen in einem anderen Menschen.

„Die Geschichte ist gar nicht zu erzählen ohne den Stoff der Geschichte“, schreibt Nádas. Der Stoff ist das Netzwerk der Gefühle seiner verschiedenen Ichs. Aber es wäre unzulässig, das Buch der Erinnerung auf ein Konglomerat seelischer Privatdramen zu reduzieren. Das Buch oszilliert in allen seinen Teilen zwischen intimsten Gefühlen und Emotionen und der Geschichte, großgeschrieben. Der Tod Stalins, 1953, wirkt nachhaltig auf das Beziehungsgeflecht zwischen Kristian und Erzähler ein, verändert Schule und Elternhaus. Der Gymnasiast nimmt mit Ranzen, Lineal und Stullen an der ungarischen Revolution 1956 teil. Kalmán, der andere Schulfreund, stirbt, von Kugeln durchsiebt, an seiner Seite in den Straßen von Budapest. Melchior berichtet seinem Freund vom Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953. Beide unternehmen im Ost-Berlin der 70er Jahre lange nächtliche Spaziergänge am Prenzlauer Berg, am Weißensee, in der Dimitroffstraße. Manchmal stoßen sie an die Mauer. An der Mauer, im Licht der Straßenlampen und der Reflektoren der Wachtürme, legt Melchior das Geständnis ab, daß er nach West-Berlin fliehen wird, alles für die Flucht vorbereitet sei, er den Hintermännern des Lastwagenfahrers, der ihn in einem Sarg, als deklarierte Leiche, mitnehmen wird, das Geld zum größten Teil bereits gegeben habe. In den alten Straßenzügen Ost- Berlins riechen, spüren und fühlen die beiden Wanderer „eine, wenn auch zerstörte und dem weiteren Verfall preisgegebene, geflickte, geschwärzte, zerfallende Individualität“. Ihnen — und uns Lesern — ist es, als bewegten wir uns zwischen den Kulissen einer Persönlichkeitstragödie von europäischen Ausmaßen.

Nádas nennt in seinem Vorspann Plutarch, und er wählt als Motto seines Buches Johannes: „Er aber redete vom Tempel seines Leibes.“ Wenn wir in dieses Buch eintreten, uns von seinen ausschweifenden, langatmigen, für manchen vielleicht auch altmodischen Sätzen davontragen lassen, so denken wir an Hermann Broch, an Robert Musil, an Joseph Roth und, in den Kapiteln über Heiligendamm, auch an den Tod in Venedig von Thomas Mann. Nádas ist beladen mit allen europäischen Erzähltraditionen, doch wäre seine Art zu schreiben, auch nicht denkbar ohne die moderne Tradition des sexuell offenen Romans, wie sie etwa Jean Genet mitbegründet hat. Ich habe diese Fracht in Nádas' Sprache als angenehm verspürt. Ihre langen, genießerisch langen Sätze, mit eingeschobenen Betrachtungen und kurzen Essays über das Liebesleben der Weinbergschnecken, antike Mythologie oder die Kunst des Küssens, sind klare Mäander eines klaren, eigenwilligen, einzigartigen Gedächtnisses.

Péter Nádas: Buch der Erinnerung

Aus dem Ungarischen von Hildegard Grosche. Rowohlt Verlag Berlin, 1991, 1.303 Seiten, geb., DM 48,-.

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