Legenden gegen Deck-Erinnerungen

Peter Careys Australien-Geschichte  ■ Von Edgar Peinelt

Peter Carey beginnt seinen weitgespannten Roman Oscar und Lucinda ganz beschaulich, im Stil einer Familienchronik, mit dem Hinweis auf die vertrauten Bilder der Vergangenheit: Im Elternhaus hängt an der Wand „hinter Glas die geheiligte Daguerrotypie von Hochwürden Oscar Hopkins, meinem Urgroßvater, ... der die kleine Kirche von St.John nach Bellingen gebracht hat“ — ins wilde australische Hinterland. Die eine der beiden Hauptpersonen tritt damit als ehrwürdiger Gründervater auf; die andere, Lucinda, erscheint als Stifterfigur, ohne genannt zu werden: Der Vater des Erzählers blickt versonnen durchs Fenster hinaus auf „das Denkmal seiner Ehe, die Prinz-Rupert-Glashütte“. Was das bedeutet, wird der Leser erst am Ende der Geschichte recht begreifen.

Aber daß sich hinter diesen friedlichen Bildern etwas ganz anderes verbirgt, wird sofort deutlich: „Die Art, wie meine Mutter die Geschichte von der Kirche erzählte, war mir immer peinlich. ... Irgend etwas stimmte nicht. Wir alle müssen es gewußt haben, aber es kam nie zur Sprache.“ Und: „Ich habe gelernt, ländlichen Legenden zu mißtrauen.“ In Darkwood, einer Gegend, die angeblich wegen ihres dunklen Laubs so heißt, wurde, nicht lange zuvor, „ein ganzer Stamm Eingeborener über die Klippe getrieben“. Damit hat Peter Carey ganz nebenbei seine Absichten deutlich gemacht: Er will anderen Legenden Geltung verschaffen, er bietet Geschichten gegen die Deck-Erinnerungen auf.

Am Anfang seines Romans Illywhacker, einem wunderbaren Bilderbogen der australischen zwanziger und dreißiger Jahre, war Peter Carey mit einer ähnlichen Botschaft angetreten: „Alles Lüge!“ Aber dort hieß es noch augenzwinkernd: „Versuchen Sie nicht, Lüge und Wahrheit zu trennen, sondern entspannen Sie sich und genießen Sie die Show.“ Diesmal scheint die Sache ernster; es geht um Lebenslügen und letzte Wahrheiten: In Oscar und Lucinda wendet sich Carey der nächsttieferen Schicht in der lückenhaften kollektiven Erinnerung zu. Er führt seine Leser ins viktorianische Zeitalter und erzählt von der Heuchelei und Doppelmoral eines Weltreiches, das sich von Plünderung und Totschlag nährt, aber den Fortschritt der Vernunft, die Zivilisation und die christliche Demut im Wappen führt.

Als Kind, in Devonshire, England, hatte Oscar Hopkins „kein Verlangen danach, ... an den großen Abenteuern des Empire teilzunehmen. Dieses Empire existierte jenseits des Nebels, der die Sicht beschränkte.“ Aber Oscar wird das Empire im harten Licht sehen, eines Tages wird er eine Münze werfen (denn Wetten sind seine Leidenschaft) und auf „Kopf“ setzen: Der Kopf der Königin Viktoria zeigt sich auf dem Handrücken, und Oscar bricht auf in die australische Kolonie. Aber nicht, um zu erobern. Er ist ruhelos, ein Fremder fast von Geburt. Weil er den Rigorismus seines Vaters, eines Sektenpredigers der „Plymouth-Brüder“, nicht erträgt, sucht er schon als Knabe Zuflucht bei der anglikanischen Staatskirche, doch Anpassung und Ehrbarkeit will ihm auch dort nicht gelingen, im geistlichen Beruf so wenig wie in der Mission, die ihn in eine neue Welt führen soll. Oscar ist unbequem und eckig, ein Zweifelnder, ein Ungeschützter in einer Welt robuster Selbstzufriedenheit — „ein Luftwesen ... weiß und zerbrechlich“, „wie ein eben erst gelandeter Engel“. Dafür lieben ihn manche: „Du paßt nirgendwohin“, sagt ein Freund, „Du bist wunderbar. Du bist völlig einmalig.“ Aber die Welt nimmt ihn nicht auf. Immer wieder wird er „ausgespuckt und mit dem Bann belegt“. Erst im letzten Scheitern gewinnt er und stiftet eine Legende, die ihn ehrbar macht.

1857, während der Überfahrt nach Australien, trifft Oscar Hopkins auf Lucinda Leplastrier, die, nach einem Aufenthalt in England, ins Land ihrer Geburt zurückkehrt. Auch Lucinda kann sich nicht einfügen: Sie ist reich, selbstbewußt und eigensinnig, aber zur falschen Zeit und am falschen Ort, sie verabscheut die starren Konventionen, die Heuchelei und Doppelmoral. Ihr Vermögen stammt aus Parzellierung und Verkauf des australischen Bodens, den ihre verstorbenen Eltern erworben hatten. Lucinda hält den Träumen (und komplementären Lebenslügen) der Eltern die Treue. Der Vater träumte vom guten Landleben, die Mutter hoffte, in der Kolonie ihre „Vision“ von der Frauenemanzipation durch industriellen Fortschritt zu verwirklichen: „Jene Fabriken, welche die Romantiker so abstoßend fanden, würden ihren Geschlechtsgenossinnen eines Tages die ökonomischen Grundlagen für ihre Freiheit bieten.“ So kann die Tochter das Geschäft, das ihr Vormund besorgt hat, nicht kalt und kaufmännisch betrachten: „Ich habe mein Vermögen nicht verdient. Es ist das Ergebnis Ihrer schlauen Aufteilung des Landes und mit der Arbeit meiner Mutter und meines Vaters und mit dem Blut der Eingeborenen ... erkauft worden.“ Ihr hilfloser Versuch der Wiedergutmachung bleibt auf den ersten Blick der importierten Fortschrittsutopie verhaftet: Sie kauft eine Glasfabrik.

Oscar und Lucinda treffen sich an einem symbolischen Ort: auf hoher See, im Bauch eines Luxusdampfers, ihr Schicksal scheint da ganz aufgehoben in der Vision der Beherrschbarkeit und Berechenbarkeit aller Unternehmungen in der ungewissen Welt. Aber ihr Zusammentreffen, mit all seinen Folgen, ist ein Zufall in einer Kette von Zufällen, und da zeigt sich, was Peter Careys weitverzweigte Geschichten auch zusammenhält — die Faszination des Widerspiels von Ordnung und Chaos („Leviathan“ heißt der Dampfer) und die Idee der Kontingenz: „Damit es mich geben kann,“ sagt der Erzähler, „müssen sich ein Spieler und eine Spielerin begegnen, besessen der eine, zwanghaft die andere.“

Nichts ist notwendig existent, aber was da ist, muß eine Ursache haben: In Peter Careys Geschichten wird der Kontingenzbeweis geführt. Sein Reverend Oscar Hopkins ist ein geistlicher, ein scholastisch legitimierter Spieler. Er wappnet sich mit Pascal gegen die Zufälligkeit, gegen den Schrecken eines sinnlosen Universums: „Unser ganzer Glaube ist eine Wette. ... Wir wetten, daß es einen Gott gibt. Wir setzen unser Leben darauf. ... Wir müssen alles auf die unbeweisbare Tatsache Seiner Existenz setzen.“

Lucinda ist eine weltliche Spielerin. Für sie ist das Spiel „eine Abstraktion menschlichen Strebens“. „Es gab ... so vieles, was dafür sprach, Karten zu spielen. Man war nicht gezwungen, sich zu verstellen ... Man konnte Zeit totschlagen, die Einsamkeit vertreiben, Freundschaft mit Fremden schließen ... Man besaß keine Verantwortung, man hatte keine Wahl.“ Aber darin zeigt sich auch ein geistliches Motiv: Lucinda spielt purgatorisch; nur wenn sie verliert, fühlt sie sich „leicht und rein wie Reispapier... schlaff wie eine Lumpenpuppe und vollkommen sicher“. Denn sie möchte von der Bürde des unrecht erworbenen Vermögens erlöst werden: „Sie warf ihr Geld von sich, sie streifte es ab.“

Oscar und Lucinda finden sich im Spiel, verlieren sich und finden sich wieder (im Spiel), sie lieben sich und wollen sich diese Liebe zuletzt in einer bizarren Wette beweisen, in der beide alles aufs Spiel setzen. Da haben sie sich längst darauf geeinigt, daß sie den bigotten Krämerseelen der besseren Gesellschaft keinen Respekt mehr schulden. Einem Geschäftsmann, der ihr vorwirft, sie spiele „mit Geld als wäre es Fallobst“ hält Lucinda entgegen: „Wir wagen unser Leben. ... Wir sind lebendig.“

Peter Careys Erzählung ist nicht zuletzt eine Invektive gegen die berechnende Vernünftigkeit, gegen die selbstgefällige Lebensklugheit, die sich auf das biblische Gleichnis von den Talenten beruft. Seine beiden „hochherzigen Spieler“ haben ihre australische Lektion über den Geist ihres Zeitalters lernen müssen: „Der Gesellschaft scheint wenig am Allgemeinwohl zu liegen, vielmehr ist alles Trachten auf Eigennutz gerichtet.“ Und: „Das Spielen schien die Hauptbeschäftigung in der Kolonie zu sein“, aber „Sydney — eine korrupte Stadt — war zu puritanisch, um dergleichen durchgehen zu lassen.“

Die entscheidende Wette, in der Oscar und Lucinda sich zum letzten Mal vereinen, ist eine Travestie der imperialen Aneignung und Besetzung des offenen Raums und des Ungekannten: Es geht darum, bis zu einem fixierten Zeitpunkt eine Kirche aus Fertigteilen, aus Glas und Eisen, auf unerforschten Landwegen ins australische Hinterland zu transportieren — ein unsinniges Projekt, eine Folge von Mißverständnissen, aber Oscar Hopkins bricht auf mit seiner symbolischen Fracht.

Für Lucinda war der Kristallpalast in London „das Gebäude, das sie mehr bewunderte als jedes andere... Sie hatte eine Leidenschaft für gewisse Ideen, jene philosophischen Gegenstücke großer Kathedralen aus Stahl und Glas, und ließ sich insgeheim von ihnen mitreissen.“ In ihren „Glasträumen“ geht es darum, „etwas Außergewöhnliches und Großartiges aus Stahl und Gußeisen zu bauen.“ Glas ist eine Metapher des Fortschritts, der kühlen klaren Vernunft, aber Lucinda hält auch den Kristallpalast für „nichts weiter als eine Art Phantasiegebilde“; und Träume folgen ihrer eigenen Logik.

Als Kind hat man ihr eine „Teufelsträne“ geschenkt, ein kostbares zufälliges Nebenprodukt der Glasherstellung, einen Glastropfen, der Hammerschlägen widersteht, sich aber in „eine Explosion von Tautropfen“ auflöst, sobald man sein spitzes Ende abbricht: „Das Glas war seinem Wesen nach ein Symbol für Schwäche und Stärke; es war eine Chiffre, die für das Herz eines Menschen stand.“ Lucinda hat „das wunderbare, widersprüchliche Wesen von Glas erkannt“, hat begriffen, „daß es ... ein heiteres und paradoxes Material ist“. Solche Seiteneffekte des machbaren Fortschritts bezaubern auch Oscar Hopkins: Glas erscheint ihm als „Elastisch. Proteisch. Flüssig. Ein Lichtgefäß“, als „das Material, das dem Wesen der Seele oder des Geistes am nächsten kam“.

Hellsichtig bemerkt Lucinda, daß sie „Liebe nicht von Glas trennen“ kann, und sie begreift, „daß sie die Wette nur abgeschlossen hatte, um vielleicht endlich zu tun, was was sie am Spieltisch nie geschafft hatte — die große schuldbefrachtete Last ihrer Erbschaft abzuwerfen.“ Sie verliert die Wette und damit die Glashütte, ihr gesamtes Vermögen, ihr „white woman's burden“ — auch das ist eine Travestie der Kolonialmentalität.

Die Idee einer „Kirche, die ... die Liebe zwischen Oscar und Lucinda verherrlichen sollte“ ist nicht zu verwirklichen. Oscar gewinnt die Wette, doch er verliert sich und geht unter in dem Traum aus Glas und Eisen. Aber Peter Carey führt dieses Leitmotiv zu einem hoffnungsvollen Ende — zuletzt ergibt sich ein überraschender Perspektivwechsel. Der Erzähler ergreift wieder das Wort, und berichtet, wie die Ureinwohner die gewaltsame Ankunft von Glas und Kirche verstanden haben, in ihrem Land „das voller Geschichten ist, die älter sind, als die Bibel“, einem Land, „in dem Glas nie, niemals zuvor existiert hatte“. In ihren Liedern heißt es, daß „Glas schneidet“, aber auch, daß es „den Fremden heilig ist“. Sie verstehen es als „die Träume der weißen Männer“. Und Oscar Hopkins erscheint ihnen als Heiliger; zuletzt ist er doch ein Missionar, denn sie sehen, „daß Glas gut sein konnte“.

So bleibt die Ambiguität der Glasträume erhalten, die Peter Careys Roman von der Kollision der Welten, vom Neben- und Durcheinander von Traum und Wirklichkeit kennzeichnet. Es sind die Ungebärdigen und Unangepaßten, die Peter Careys Hoffnung tragen. Er versucht, einen Sinn einzuschreiben in die Kette kontingenter Ereignisse, aber zu unserem Glück hat er sich der ganz offenbar an das Jean Paul'sche Motto gehalten, daß „jede Hauptmaterie für einen Autor nur das Vehikel und das Pillensilber und der Katheder sein muß, um darin über alles andere zu reden“.

Peter Carey: Oscar und Lucinda. Roman, aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Verlag Klett- Cotta, 584 S., geb., DM 44,-.