Vom Nachttisch geräumt: Wutmacher

„Die Füße meiner Großmutter wurden gebunden, als sie gerade drei Jahre alt war. Ihre Mutter hatte zuerst ein Stoffband von sechs Metern Länge so um ihre Füße gewickelt, daß alle vier kleinen Zehen in Richtung Ballen zeigten. Dann legte sie einen großen Stein auf ihre Füße und zerschmetterte den Fußrücken. Meine Großmutter schrie vor Schmerzen laut auf und flehte ihre Mutter an, aufzuhören. Ihre Mutter stopfte ihr ein Tuch in den Mund, um sie zum Schweigen zu bringen. Meine Großmutter verlor während der Prozedur mehrmals das Bewußtsein. Es dauerte Jahre, bis das Schönheitsideal erreicht war. Nachdem die Knochen gebrochen waren, mußten die Füße Tag und Nacht fest mit Tüchern gebunden werden, bis sichergestellt war, daß sie nicht mehr zusammenwachsen würden. Hätte man die Tücher gelöst, wären die Füße sofort weiter gewachsen. Über Jahre hinweg litt meine Großmutter ständig furchtbarste Schmerzen.“

China 1912. Jung Chang erzählt in Wilde Schwäne die Geschichte ihrer Familie. Von der Kaiserzeit bis heute. Die 1952 in Sichuan geborene Autorin lebt heute in London. 1978 gelang ihr die Ausreise. Nachdem sie als Rotgardistin die Mao-Bibel geschwenkt hatte und auf dem Lande umerzogen worden war. Fast 70 Jahre von einem Schrecken zum nächsten. Drei Generationen Unterdrückung, Ausbeutung, Erniedrigung. Mal unter dieser, mal unter jener Fahne. Dazwischen immer wieder ein Aufatmen, Hoffnung. Selten länger als ein, zwei Jahre. Jung Changs Eltern waren Kommunisten. Überzeugt und begeistert bei der Sache. Aber sie waren die falschen Kommunisten. Ihr Vater folgte nicht jeder Parteischwenkung. Mehrere Kapitel berichten von der Kulturrevolution. Eines ist überschrieben: „,Wenn man jemanden verurteilen will, findet man auch einen Beweis.‘ Meine Eltern werden gequält, Dezember 1966-67.“ Das Buch macht wütend. Nicht über China, nicht einmal über die KP Chinas. Nein, man wird wütend auf sich selbst, auf seine Hilflosigkeit, seine Unfähigkeit, all dieser Gemeinheit den Garaus zu machen. Was läßt sich Besseres über ein Buch sagen?

Jung Chang: Wilde Schwäne . Übersetzt von Andrea Galler und Karlheinz Dürr, Droemer Knaur, 639 Seiten, zahlreiche Fotos, 49,80 DM.