Tote Seelen

Das sowjetische Kino ist in der Krise  ■ Von Oksana
Bulgakowa

Nach dem Beginn von Perestroika und Glasnost hatte der sowjetische Filmverband — damals noch unter Elem Klimow — zusammen mit Wirtschaftsexperten ein neues Modell für die Filmproduktion erarbeitet. Die Zensur wurde abgeschafft, die staatliche Subventionierung, wie die Autorenfilmer sie aus den Zeiten der Zensur kannten, aber nicht. Die großen Studios — Mosfilm und Lenfilm — spalteten sich in kleinere Produktionsgruppen auf. Diese nannten sich selbständige Studios, ihre Gelder bekamen sie aus einem großen gemeinsamen Topf zugeteilt, womit auch die Entscheidung gefällt war, wer was wann machen könne. Von Abschaffung der Subventionen war noch nicht die Rede, und die Romantiker der 60er glaubten, daß die Zuschauer bereit wären, sich die guten Filme, was auch immer man darunter versteht (soziales Engagement, künstlerische Ambition oder zumindest solides Handwerk), anzusehen und weiter ins Kino zu gehen.

Die Rechnung war einfach: Ein paar kommerzielle Streifen sollten das Gros des sowjetischen Autorenkinos durchfüttern. Das neue Prinzip hieß „Selbstfinanzierung“. Ein Regisseur gründet sein kleines Studio innerhalb des Giganten Mosfilm und holt sich aus Odessa Stanislaw Goworuchin, der mit seinen Agatha- Christie-Verfilmungen das Geld schon einbringen würde, mit dem sich dann zum Beispiel auch der eigene sozialkritische Dokumentarfilm So kann man nicht leben! finanzieren läßt. Merkwürdigerweise war jedoch der Dokumentarfilm erfolgreicher als Agatha Christie. Die Rechnung war wohl doch zu einfach.

Für das „Selbstfinanzierungsmodell“ hätte es einer Anschubfinanzierung vom Staat bedurft und der übertragung sämtlicher Eigentumsrechte inklusive der Urheberrechte an den bis jetzt produzierten Filmen auf die einzelnen Studios. Mosfilm klagt diese zur Zeit großmännisch ein, es möchte den riesigen Filmstock selbständig auswerten. Sein Appetit erstreckt sich dabei auf die gesamtrussische Produktion ab 1919, ungeachtet der Tatsache, daß das Studio erst 1935 gegründet wurde. Dagegen verwahren sich jedoch das Staatliche Filmarchiv und die Außenhandelsfirma Sovexportfilm. Der Streit ist noch nicht entschieden.

Indessen schrumpfen die Subventionen mit grassierenden Halbwertzeiten (auch angesichts der rasenden Inflation) und sollen bald ganz abgeschafft werden. Während der Staat „früher“ 109 Filme im Jahr voll finanziert hat, sind es heute ganze 19. Die staatlichen Studios können nun selbst als Produzenten auftreten, was im Klartext nur heißt: sich selbst nach Geld umschauen. Seit überall sogenannte unabhängige Studios entstanden sind, ist die Situation noch undurchsichtiger. Das größte davon heißt „Fora“ und hat seinen Sitz in Moskau, ganze 19 Studios haben sich allein in Kasachstan niedergelassen. Die staatlichen Studios produzierten 1991 (wie gesagt, ohne vollstaatliche Subventionierung) 150 Filme, die „unabhängigen“ etwa 60 und keineswegs 400, wie häufig behauptet wird. Die Konkurrenten sind neidisch aufeinander. Die Unabhängigen klagen, daß die Staatlichen auf einer Goldmine (Ateliers, Mischateliers, Technik, eigene Kopierwerke usw.) sitzen, die staatlichen beklagen, sie könnten nicht frei mit Geld und Krediten umgehen. „Fora“ hat es auf Mosfilm abgesehen und es mit 48 Millionen Rubel veranschlagt, aber Mosfilm will sich als Konzern etablieren, was den Unabhängigen schier die Beine weghaut. Das sei kein freier Markt mehr, meinen sie, sondern die alte Monopolstellung.

Woher die Unabhängigen das Geld für ihre Produktionen nehmen, ist ein Rätsel. Gewöhnlich geht man davon aus, daß viele Geldgeber den Film als Geldwaschanlage nutzen oder daß sie rein arithmetische Berechnungen anstellen. Ein Speditionsunternehmen denkt sich: In der Sowjetunion gibt es elf Millionen Fernfahrer. Wenn wir einen Film über Fernfahrer finanzieren (die Produktionskosten belaufen sich auf etwa eine Million Rubel), würde vielleicht jeder Fahrer einmal mit seiner Liebsten ins Kino gehen (eine Kinokarte kostet immer noch einen Rubel), das heißt: Der Film könnte über 20 Millionen Rubel bringen, also einen zigfachen Gewinn. Doch bei der derzeitigen Inflationsrate steigen die Produktionskosten ins astronomische. Und wider Erwarten gehen auch die Fernfahrer nicht mehr ins Kino.

Und dennoch finanzieren Fischereikolchosen, Stahlwerke und Strumpfhosen-Kooperativen unentwegt Filmproduktionen: Das ist besser fürs Prestige, als das Geld in die Produktion von Müllkästen zu stecken. Auf dieses Geld und auf Bankkredite greifen die unabhängigen Studios zurück. Sie mieten die Ateliers und Technik bei den staatlichen Studios und zahlen dafür das Dreifache. Sie mieten auch die Mitarbeiter von Mosfilm und zahlen ihnen das fünffache Gehalt. Das Ergebnis: die Regisseure, die die ökonomische Perestroika heraufbeschworen und eingeleitet haben, schreien verzweifelt, daß das Kino baden geht. Mosfilm macht mehr Profit, wenn es das Studio an Unabhängige oder Kooperativen verpachtet, als wenn es eigene Filme produziert.

Die Verleihsituation sieht nicht besser aus. Mos-Filme kauft kein Verleiher mehr an, viel günstiger ist für die Verleihbranche das Geschäft mit den billigen Produktionen der Kooperativen. Sie sind die eigentlichen Früchte der Perestroika, die sowjetischen „B“- und „Z“-Pictures. Superbillig, kitschig, vulgär: eine Adaption amerikanischer Muster, auf die sowjetische Realität geklatscht, nur in der Ausführung etwas gröber, eben wie die nachgemachten Jeans oder T-Shirts. Mafia- Krimis, unbedingt mit Folterungen der Mafiosi durch Racketeer: das stillt den Haß der Bevölkerung auf die neuen Reichen. Auch für sadistische Kompensation ist gesorgt, „indische“ Melodramen sind im Angebot und Soft-Pornos mit sozialistischen Körpern und unverhüllten Titeln: Ein Tag Liebe.

Ob diese Filme tatsächlich die Nachfrage bedienen, interessiert keinen. Der „Markt“ bleibt ein Gespenst, eine Black box. Die Produzenten machen Filme und verkaufen sie sogar an Verleiher. Ob sie jemand sieht, weiß keiner.

Was gehört wem?

Während der Berlinale im Februar war es zu einem kleinen Eklat gekommen, an dem die Undurchsichtigkeit der aktuellen Eigentumsverhältnisse drastisch klar wurde. Der Wettbewerbsfilm Satana stammt von einem unabhängigen Produzenten (natürlich unter Ausnutzung der technischen Kapazitäten incl. Crew des Lenfilm-Studios). Das Geld kam von einer Bank aus Alma-Ata, die es nicht als Kredit vorgestreckt hatte. So trat die Bank als der eigentliche Produzent und schließlich Besitzer des Films auf. Nur ist die Bank ja kein Privatunternehmen, sondern Staatseigentum. Ihre Anleger sind Staatsbetriebe und zunehmend kaufkraftgeprellte Kleinsparer — wem also gehört der Film? Die Regisseure schaffen da eher noch mehr Verwirrung und verwechseln in der Diskussion Urheberrechte und Eigentumsverhältnisse. Sie bestehen darauf, daß der Film ihnen als Macher gehören muß. Und die neuen alten Produzenten stehen zwischen den Geldgebern und den Machern — nun aber ohne Macht und Geld, auch wenn sie im Vorspann Produzenten genannt werden.

Die Regisseure klagen: Hochqualifizierte Mitarbeiter lassen sich kaum noch finden. Alle arbeiten für die Kooperativen, weil die besser zahlen. „Eine Million oder eine Schachtel Marlboro mußt du bringen, damit ein Nagel in die Dekoration geschlagen wird“, erzählt ein Regisseur: „Eine Hölle, durch die heute gehen muß, wer seinen Film heute unter staatlichen Bedingungen zu produzieren versucht.“

Verleih

Früher entschied die Zensur, namentlich die Hauptverwaltung Film, wieviel Kopien von einem Film gezogen werden und wie sie im Kino einzusetzen sind. In jedem Bezirk des gewaltigen Landes gab es darüber hinaus lokale Korrekturen dazu. Der Chef eines Verleihnetzes im Norden Rußlands befand zum Beispiel, bei ihm werde kein Tarkowski gezeigt. Doch die Distribution war im allgemeinen genauso zentral kontrolliert wie die Produktion — ein Erbe aus der Stalin-Zeit, als ganze sieben Filme pro Jahr entstanden, keine ausländischen angekauft wurden und in Moskau monatelang nur ein einziger Film zu sehen war. Klar, daß die Menschen bei fehlender Unterhaltungsindustrie diesen einen Film 20mal sahen — sie hatten keine Wahl. Daher rühren die ungeheuerlichen Zahlen der Tschapajew-Besucher. Wenn die Helden in Tarkowskis Diplomfilm 1961 immer noch in Tschapajew (1934) gehen, dann ist das kein cinephiler Einfall, sondern reinste Kino-Realität.

Heute entscheidet der Verleih selbständig, welche Filme er kauft und anbietet. Die Studios stellen ihre Produktionen auf einem Allunionsfilmmarkt vor, die Verleiher schauen sie sich an und kaufen sie meistens nicht. Wenn sie einkaufen, dann bestellen sie die Kopie beim Studio und bezahlen sie dort. Sergej Owtscharow, der Regisseur von Ono (Es, 1990 im Programm des Forums) erzählte, daß von seinem Film nur eine einzige Kopie bestellt wurde. Mehr noch: die Verleiher sind jetzt in einer Assoziation zusammengeschlossen, und ihr Chef, Tagi Sade, wird gerade von den sowjetischen Filmemachern, Medien und Gerüchten zu einer Skandalfigur stilisiert — zwischen Don Corleone, Nosferatu und KGB-Agenten. Sade, ein in Moskau geborener Aserbaidschaner, mit Goldkettchen und dem Parteibuch der KPdSU dekoriert, verdiente sich anfänglich ein Vermögen mit Blumenhandel in den Metro-Stationen, legte sich dann eine Pferdezucht zu und kaufte sich für die damit erwirtschafteten Dollars 150 alte amerikanische Filme, um sie seinen Vasallen aus der Verleiher-Assoziation weiterzugeben und damit (und nur damit) Geld zu machen. Tagi Sade beschäftigt in seinem Büro fast die gesamte inzwischen entlassene Leitung des ehemaligen Filmministeriums „Goskino“, den Ex-Filmminister und seinen Ex-Stellvertreter.

Kürzlich trat er sogar als Filmproduzent auf und ließ Iwan der Schreckliche inszenieren. Als der Film fertig war, fiel jemandem ein, daß es in der Sowjetunion schon einmal einen Film mit diesem Titel gab (und zwar von Sergej Eisenstein), also taufte man den neuen um in Zar Iwan der Schreckliche. Tagi Sade startete für seinen Erstling eine Promotionskampagne, die in diesem Jahr bis nach Cannes führte: Er brachte seine Pferde, Kostüme und Untergebenen mit, etwa 600 an der Zahl. Mit dem Aufwand und Pomp eines großrussischen Kaufmanns aus den Komödien des 19. Jahrhunderts. Woraufhin namhafte Filmregisseure ihn dunkler Verbindungen zum KGB bezichtigten: Wer sonst könne so schnell 600 Auslandspässe mit gültigen Visa organisieren. Für viele ist Sade der Teufel in Person, von der Perestroika ins Leben gerufen. Jewgeni Jewtuschenko sprach jüngst sogar davon, daß Tagi Sade eine neue Berliner Mauer zwischen der Kunst und dem sowjetischen Publikum gebaut habe.

Tatsächlich ist die Sache wahrscheinlich viel einfacher und durchaus mit den Verhältnissen in der hiesigen Ex-DDR vergleichbar: Auch hier verstehen sich die Marktmanager am besten mit den Partokraten von früher.

Um sich dem Boykott der Verleiher zu widersetzen, gründeten die Filmemacher eine Organisation unabhängiger Produzenten und Eigenverleiher. Zum Selbstschutz. Sie veranstalteten ein Festival nicht gekaufter Filme. Den ersten Preis bekam Erstarre, stirb, steh wieder auf!, Fortsezung nächste Seite

Fortsetzung

die Goldene Kamera von Cannes90. Doch was nützt der Preis? Selbst die Filmklubs, für die die Regisseure eine Steuerbefreiung durchgeboxt haben, zeigen Kommerzfilme. Sogar die Studios, die jetzt eigene Kinos kaufen, zeigen dort nicht die eigenen Produktionen, sondern dieselbe amerikanische Massenware, um das Geld für eigene Produktionen zusammenzubekommen. Und die Macher, die sich in der Selbstverleiherorganisation vereinigt haben, besitzen keine Kinos, um ihre Filme zu zeigen.

Kinos

In Moskau und Leningrad entdeckt man auf den Filmplakaten lauter Titel, die man gar nicht kennt — die Trümpfe Tagi Sades. In der Provinz ist es noch schlimmer. Video hat die Leinwand erobert. Die munteren Unternehmer tingeln mit fahrbaren Großprojektionen (Video-Beams) und ein paar heißen Kassetten über das flache Land, mieten ein staatliches Kino an, kündigen auf handgeschriebenen Zetteln ihr Programm an und bestimmen die Preise. Statt einem Rubel für den Eintritt werden kurzerhand fünf verlangt, statt uralter amerikanischer und sowjetischer B-Pictures wird „frische“ Ware angeboten. Der Erlös für den im offiziellen Programm ausgedruckten Film wird an die Verleihleitung abgeführt, in den Rechenschaftsberichten figurieren falsche Titel, oder, wie es im Russischen traditionell heißt, „tote Seelen“. Was wirklich lief und wieviel Geld dabei eingesammelt wurde, bleibt im Dunkeln.

Da versteht man fast, daß Jack Valenti, der Vorsitzende des amerikanischen Filmverbandes, in Kalifornien aus dem Anzug springt und nach Exportverboten schreit (wenn er's denn nur durchsetzen könnte...). Denn nur der ursowjetische Umstand, daß ein Direktor sein Kino sowieso als staatliches Eigentum betrachtet, also etwas, das keinem und bestenfalls ihm gehört, macht die Sache so traumhaft einfach. Gefährlich wird es nur, wenn die Verleiherassoziation die Einspielergebnisse und Vertragsbedingungen mit unkonventionellen Mittel zu kontrollieren beginnt. Diese Kontrolle fürchtet man mehr als den Boykott der Amerikaner — letzterer wäre ohnehin nur mit einem funktionierenden sowjetischen Zoll durchzusetzen.

Die Amerikaner haben sich quergestellt — nicht nur, weil Jack Valenti im Foyer des größten Moskauer Filmtheaters „Oktober“ Gone with the Wind auf Video sah. Vielleicht sind ja Informationen über weitaus größere Operationen von einem tüchtigen CIA-Agenten zu ihnen gedrungen. Unt trotzdem: Als ich wieder nach Berlin folg, lief im Video- Saal des Flughafens Moskau-Scheremetewo Rambo III.

Die Säle im bislang kinofreundlichsten Land der Welt sind leer. Das Publikum hat andere Sorgen. Die Reden in den Parlamenten werden immer kühner, die Stimmung auf den Straßen immer deprimierender. Es gab eine Zeit lang keine Seife, dafür ein Shampoo für 80 Rubel (Mindesteinkommen) und das Parfüm „Salvador Dali“ für 400. Die Depression steigt parallel zur Inflation. Der Ausweg? In zwei sowjetischen Filmen — übrigens Komödien — suchen die Autoren ihn im Himmel; die Helden steigen in die Luft und werden von gepanzerten Sondereinheiten beschossen. Eldar Rjasanow nannte seine Komödie Der gelobte Himmel, auf das Land scheint kein Verlaß mehr zu sein. Der andere Regisseur, Sergej Solowjow, baute Ein Haus unterm Sternenhimmel. Die Suche nach Gott, der letzten Wunderrettung, ist schon im Titel offenkundig.