Zeuge Wolf sagt aus und schweigt

Medienspektakel anläßlich der Vernehmung von Markus Wolf beim Prozeß um den Ostberliner Aufklärer Harry Schütt/ Wolf vergleicht DDR-Aufklärung mit dem BND  ■ Aus München Erwin Single

Die winzige Gerichtskammer in der Schleißheimer Straße, wo der Staatsschutzsenat des Bayerischen Obersten Landesgerichts normalerweise residiert, wäre vor Andrang geplatzt. Selbst im mächtigen Justizpalast am Münchner Stachus wurde es gestern eng, als der Vorsitzende Richter Ermin Brießmann die Verhandlung im Verfahren gegen den früheren Generaloberst der DDR- Auslandsaufklärung, Harry Schütt, eröffnete. Dort wartete alles darauf, daß jener feine Herr auspackt, der als „Mann ohne Gesicht“ fast 30 Jahre lang das DDR-Spionageimperium geleitet und seinen Gegnern aus dem Westen manchen Agentenclou beschert hatte: Markus „Mischa“ Wolf, einst Chef der „Hauptabteilung Aufklärung“ (HVA) im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und heute von Beruf „Autor“, wie er ganz bescheiden angibt. Wolfs ehemaliger Abteilungsleiter Harry Schütt, der Beihilfe zum Landesverrat angeklagt, hatte sich nicht geirrt: Markus Wolf läßt Harry Schütt nicht im Stich.

Der Grandsigneur aller Spione, von Harry Schütts Verteidigern als Entlastungszeuge geladen und von seinem Hamburger Anwalt Volker Schwenn begleitet, war trotz seines Auskunftsverweigerungsrechts zu Aussagen bereit. Er wolle zur Klärung der Rechtsfrage beitragen, so der Meisterspion vor Gericht. Mehr aber auch nicht, denn über seine Verbindungen zu den mitangeklagten Agentenbrüdern Spuhler, die die HVA mit dem jährlichen vom Bundesnachrichtendienst (BND) erstellten militärischen „Lagebericht Ost“ versorgt hatten, schwieg sich der 68jährige Pensionär mit Wohnsitz in Berlin beharrlich aus.

Markus Wolf machte aber keinerlei Hehl daraus, was er von dem Pilotverfahren gegen ehemalige DDR- Agentenführer und der Bonner Siegerjustiz hält: Bei dem Tatvorwurf handele es sich um die „nachrichtendienstliche Tätigkeit“ eines damals „souveränen, völkerrechtlich anerkannten Staates“ — also um nichts anderes, was seine westlichen Gegenspieler für die Bundesrepublik gemacht hätten. Die HVA sei wie der BND in das Bündnissystem ihres Staates eingebunden gewesen; innerhalb der HVA habe das gleiche Unterstellungsverhältnis wie beim BND geherrscht. Zudem, so Wolf weiter, stehe ja noch die grundsätzliche Rechtsklärung durch das Karlsruher Bundesverfassungsgericht aus, daß erst einmal klären muß, ob den vom Schreibtisch agierenden früheren DDR-Spionagechefs überhaupt der Prozeß gemacht werden kann.

„Es scheint mir paradox, Herrn Schütt oder einem anderen HVA- Mitarbeiter den Vorwurf zu machen, in den Nachrichtendienst eines anderen Landes eingedrungen zu sein“, spitzte Wolf seine Auffassung zu. Schließlich habe der BND ihren aus der DDR ausgeschleusten Überläufer Stiller als großen Erfolg gefeiert. „Wenn man das zueinanderhält, tritt hier der ganze Widersinn zu Tage.“

Der Verleich der HVA mit seinem „Spiegel-Gegenstück“ BND, von Wolf in seiner Vernehmung mehrfach angeführt, saß. Nervös unterbrach Richter Brießmann den Zeugen: Das Gericht wolle „keine Wertungen, sondern Tatsachen“ hören. Einer der Bundesstaatsanwälte beruhigte ihn. Man würde Wolfs Intelligenz gewaltig unterschätzen, wenn er das nicht selbst könnte.

Auf die Frage, von welcher militärpolitischen Wichtigkeit die „BND-Lageberichte Ost“ für die HVA gewesen seien, erklärte Wolf, ihm sei nicht erinnerlich, daß es sich dabei um einen Vorgang von „irgendwelcher Bedeutung“ gehandelt habe, der Anlaß zu Nachfragen oder gar Anerkennung ergeben hätte.

Damit liegt Wolf wahrscheinlich nicht verkehrt: Die Depeschen über das, was der Westen vom Osten weiß und die das Anklagegerüst gegen den früheren BND-Mitarbeiter Alfred Spuhler, seinen als Kurier tätigen Bruder Ludwig und den Anstifter aus Ost-Berlin, Harry Schütt, bilden, wurden weitgehend aus ohnehin zugänglichem Quellenmaterial und Literatur zusammengeschrieben.

Die „Lageberichte Ost“ seien, man staune, vom BND selbst etwa nach Österreich weitergereicht worden. Nicht zuletzt deshalb stellten die Verteidiger Befangenheitsanträge gegen einige als Gutachter bestellte BND-Mitarbeiter und beantragten die Zeugenvernehmungen der früheren BND-Chefs Porzner, Wieck und Kinkel.

Auch dem Vorwurf gegen die in München angeklagten Agenten, das die Sicherheit der Bundesrepublik gefährdende Informationsmaterial sei schnurstraks an den gefürchteten KGB weitergeleitet worden, widersprach Wolf.

Die HVA habe Dossiers mit militärischem oder wissenschaftlich- technischem Inhalt lediglich in „verallgemeinerter oder analytischer Form“ im Rahmen der Bündnisverpflichtungen an die Ostblock-Geheimdienste weitergereicht, wie es der BND ebenfalls praktiziere. Im Vordergrund habe stets der Quellenschutz gestanden.

Anfangs der 60er Jahre habe sich die Verbindung der HVA zum „Komitee für Staatsicherheit der UdSSR“ als ein „rein partnerschaftliches Verhältnis auf Gegenseitigkeit“ herausgebildet; Weisungen oder Befehle des KGBs oder seiner Verbindungsoffiziere habe es „zu keiner Zeit“ gegeben.