Versorgungsmacht

„Mütter und Söhne“ von Javier Tomeo in der Inszenierung von Axel Richter am Bremer Schauspielhaus  ■  Von Lore Kleinert

Ich wohne mit meiner Mutter zusammen, die mich vergöttert und mir das Leben zur Hölle macht“ — eine ungewöhnliche Vorstellung für einen Mann, der sich um den Posten eines Nachtwächters in einer Bank bewirbt. Ungewöhnlich ist auch der Ort, an dem Bewerber und Personalchef aufeinandertreffen: eine Art Heizungskeller auf den ersten Blick, mit einem Waschbecken vor einem weißen Vorhang, der links die Sicht auf einen Teil des Bühnenraums versperrt, während rechts zwei große Mauerdurchbrüche einen weiteren Raum andeuten. Wechselnd farbiges Licht und ein Gazevorhang vor der ganzen Bühne lassen die Szenerie zum unwirklich-fremden Ort werden, eine Höhle, auf deren leicht schiefen Wänden im Laufe der Begegnung leuchtende Zeichen und Grafitti immer deutlicher zum Vorschein kommen. Die Schatten in den dunklen Zonen dieser Höhle sind keine Monster, sondern Mütter. Alte Frauen demonstrieren in zeitlupenhaft langsamen Gesten Versorgungsmacht; sie stricken, putzen, schwenken Gießkännchen oder Kochlöffel und umkreisen die beiden Männer, bis sie schemenhaft hinter dem weißen Vorhang wieder verschwinden.

Ihre stille und bizarre Präsenz scheint wie von den Männern selbst geschaffen, reden sie doch von nichts anderem als von ihren Müttern. In ihren grauen Anzügen und mit grau geschminkten Gesichtern umkreisen sie einander, berühren sich, wagen gar ein Tänzchen oder werfen sich zu Boden, doch das Gespinst, das sie trägt, besteht allein aus Wörtern. Jeden Augenblick vom Entschluß zu seiner Bewerbung bis zu seiner Ankunft muß Juan D. beschreiben, die Geschichte des Kampfes eines Frühvergreisten mit einem 100 Kilo schweren Monster, das „aus der Tiefe des Sessels heraus“ schon seit mehr als 30 Jahren ein Eigenleben des Sohnes zu unterbinden sucht. Für den anderen sind die Kindheitserinnerungen ein „süßer Abgrund“, in den er sinken möchte. Nie hat er sich von der Mutter gelöst, deren tödlichen Unfall er als Kind vielleicht sogar verursachte.

Auf dem Hintergrund der archaischen Kindheitshöhle (Bühnenbild und Kostüme: Klaus Noack) setzte der Regisseur Axel Richter, bisheriger Rostocker und künftiger Magdeburger Schauspieldirektor, auf die beklemmende Komik dieses Dialogs zweier Beschädigter. Lutz Herkenrath als Juan D. und Sören Langfeld als Personalchef der Bank balancieren ihre Figuren durch die vielen grotesken Facetten ihrer Masken und die wunden Stellen dahinter wie über ein imaginäres Minenfeld, halbgebildet und eloquent bis zur Geschwätzigkeit. Sie unternehmen kleine slapstickhafte Ausflüge in die Regression, hocken am Boden wie keckernde Äffchen, um sich im nächsten Moment mit großer Geste als Robespierre zu präsentieren, allerdings einem, der seiner Mutter, einer „passionierten Rassistin“, 30 Jahre lang beim Stricken zugeschaut hat.

Wie alle Geschichten Javier Tomeos führt auch diese in sonderbare seelische Landschaften und endet im Absurden, und daraus gewinnen seine Muttersöhne erstaunliche Lebendigkeit. Zwar fehlt ihnen Becketts geniale sprachliche Kraft ebenso wie Kafkas kalte Verzweiflung; sie sind den kleinen Neffen des Donald Duck näher als Wladimir und Estragon, und mit dem tückischen Charme der Geschöpfe Loriots verhüllen sie wenig mehr als Harmlosigkeit. Doch das ist amüsant genug, auch ohne daß aus Fußangeln Abgründe konstruiert werden. Jeder, so Javier Tomeo, habe eben seinen „Galli-Tigre“, als Kreuzung zwischen Huhn und Tiger das Symbol einer unmöglichen Liebe. Seine merkwürdigen Männer zwischen den mörderischen Müttern sind Produkt und Gegenstand solcher Liebe, und dieses dritte „Männerstück“ zur Spielzeiteröffnung in Bremen, nach Lars Norens Nachtwache und Schillers Kabale und Liebe, huldigt ihr, mit Ironie und Leichtigkeit.

Javier Tomeo: Mütter und Söhne. Regie: Axel Richter, Bühne: Klaus Noack. Mit Lutz Herkenrath und Sören Langefeld. Bremer Theater. Nächste Aufführungen: 17., 19., 24.10.