Vom Staatsorgan zum öffentlichen Dienst

■ Ein erstes ÖTV-Seminar zum Thema Stasi/ Unter den knapp eine Million neuen ÖTV-Mitgliedern dürften sich überdurchschnittlich viele Mitarbeiter und Zuträger des früheren MfS tummeln

Berlin (taz) — „Bevor wir überhaupt richtig anfingen zu arbeiten, flatterten uns bereits kübelweise Mitgliedsanträge ins Haus.“ Die Erfurter ÖTV-Sekretärin Claudia Rühlemann weiß nicht so genau, ob sie stolz darauf sein kann, daß ihre Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr in den neuen Bundesländern mittlerweile fast eine Million Mitglieder hat (in den alten Bundesländern sind es rund 1,2 Millionen). Da die ÖTV — aus der bundesdeutschen Geschichte scheinbar klug geworden — Unvereinbarkeitsbeschlüsse im Augenblick prinzipiell ablehnt, hat sie die neuen Mitglieder — zum größten Teil früher in der Gewerkschaft MSK (Mitarbeiter der Staatsorgane und Kommunen) aktiv — ohne Rückfragen oder Überprüfung aufgenommen.

Erst nach und nach erkennt die Gewerkschaft darin auch die problematische Seite. Denn keine andere Beschäftigtengruppe in der ehemaligen DDR dürfte dichter mit loyalen SED-Anhängern und Zuträgern des berüchtigten Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) durchsetzt gewesen sein als die Mitarbeiter der „Staatsorgane“, die sich jetzt Angehörige des öffentlichen Dienstes nennen. Heute ist die ÖTV in der peinlichen Situation, qua Statut Mitgliedern Rechtsschutz gewähren zu müssen, die wegen ihrer inzwischen aufgedeckten Stasi-Aktivitäten aus dem öffentlichen Dienst entlassen wurden. Weil sie sich mit dieser Verpflichtung offensichtlich selbst nicht ganz wohlfühlt, übergibt sie solche Fälle an externe Anwaltsbüros.

Ganz clevere Altfunktionäre versuchen sogar, mit gezinkten Karten Eingang in den hauptamtlichen Gewerkschaftsapparat zu finden. „Kann es angehen“, wollte zum Beispiel der von Stuttgart nach Thüringen entsandte ÖTV-Bezirksleiter Reinhard Büttner wissen, „daß uns Kandidaten bei Einstellungsgesprächen ihre eigenen Stasi-Akten vorlegen?“

Die Frage fiel auf der allerersten ÖTV-Informationsveranstaltung zum Thema Stasi: „Altlast der DDR — Neulast der neuen BRD“, das in der vergangenen Woche im „Begegnungs- und Bildungszentrum der ÖTV“ am Berliner Wannsee stattfand. Anderthalb Jahre nach Eröffnung der ersten Beratungsbüros im Osten bot die ÖTV ihren hauptamtlichen Funktionären erstmals eine Auseinandersetzung mit diesem Thema an. Daß es so lange gedauert hat, mag vielleicht auch daran gelegen haben, daß sich die ÖTV wie im Grunde alle westdeutschen Gewerkschaften bis zur Wende nur ungern mit den Opfern des DDR-Repressionsapparates beschäftigten. „Es gab ja durchaus einen positiven Bezug zum Sozialismus“, erinnert sich ein Jugendsekretär. Vor Jahren sei beinahe ein DGB-Jugendkongreß an der Frage auseinandergebrochen, ob er sich mit dem damals inhaftierten — und später zwangsausgewiesenen — DDR-Oppositionellen Roland Jahn solidarisieren soll.

Mit leichtem Entsetzen erinnerten Seminarteilnehmer auch an die ersten Gehversuche der ÖTV in der noch nicht aufgelösten DDR im Frühjahr 1990. Einige der damals aus Stuttgart entsandten Berater, so bedauert heute die ÖTV-Sekretärin aus Erfurt, hätten in Unkenntnis der staatstragenden Funktionen von Ost- Gewerkschaften ausgerechnet dort anknüpfen wollen. Das soll in Einzelfällen sogar bis hin zu Kooperationen mit BGL-Vorsitzenden gereicht haben. Die „unkluge Verbrüderung“ mit der verhaßten Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) sei von den Mitgliedern der Bürgerbewegungen, die sich damals in den Betrieben organisierten, nicht gerade als vielversprechender Neuanfang empfunden worden.

Als fatal wurde jedenfalls von einigen Seminarteilnehmern die bedenkenlose Aufnahme einer hohen Anzahl von Mitgliedern empfunden, die sich bei ihren Kollegen zum Beispiel durch Spitzeltätigkeit für das MfS diskreditiert haben. „Wenn sich die ÖTV wenigstens dazu verstehen könnte“, regte Seminar-Referent Werner Fischer an, Mitarbeiter der „Projektgruppe zur Auflösung des MfS“, „sich bei der Aufnahme von Mitgliedern die Klauseln des Einigungsvertrags zu eigen zu machen.“ Danach gilt als „wichtiger Grund für außerordentliche Kündigung“ im öffentlichen Dienst, „wenn der Arbeitnehmer für das frühere Ministerium für Staatssicherheit/Amt für nationale Sicherheit tätig war und deshalb ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint“.

Fischer überprüft für die Berliner Innenverwaltung die Kandidaten für den öffentlichen Dienst. Seit den 70er Jahren, gibt er zu bedenken, „mußte jeder in der DDR wissen, worum es beim Staatssicherheitsdienst ging, wenn er sich dort andiente“. Alle MfS-Mitarbeiter, selbst Putzfrauen und Pförtner, seien militärisch ausgebildet worden, hätten eine besondere Verpflichtungserklärung unterschrieben und in Krisenzeiten zur besonderen Verfügung gestanden. Daß ausgerechnet Stasi- Angehörige nun auf rechtsstaatliche Behandlung pochten, hält er für „besonders pervers“.

Daß der stellvertretende ÖTV- Vorsitzende Wolfgang Warburg schließlich in aller Eindeutigkeit feststellte, „in unserem Organisationsbereich gibt es keine Stelle, in der Belastete arbeiten können“, darf wohl auch als Ergebnis des von Anna Jonas initiierten Seminars begriffen werden. Aber das innerhalb der Gewerkschaft angestoßene Nachdenken über den ehemaligen DDR-Sicherheitsapparat geht offensichtlich schon weiter. Nach Auskunft des Thüringer ÖTV-Bezirksleiters Büttner sei man dabei, für die Aufnahme von Mitgliedern doch einen Unvereinbarkeitskatalog zu erarbeiten. Barbara Geier