Messerstiche in der S-Bahn: „Er oder ich“

Vor dem Berliner Landgericht muß sich zur Zeit ein 22jähriger Türke verantworten, der nach Drohungen einen Anhänger der „Republikaner“ in der S-Bahn mit dem Messer getötet hatte/ Der Angeklagte beruft sich auf Notwehr  ■ Aus Berlin Plutonia Plarre

Der 22jährige Ayhan Ö. hat Angst: Angst, ins Gefängnis zu kommen, und Angst vor der Freiheit: „Da ist der Messerstecher, werden alle sagen. Wie soll ich mich da noch auf die Straße oder in die Diskotheken trauen?“ Der in der Türkei geborene und in Berlin aufgewachsene Kraftfahrer muß sich seit einer Woche vor der 28. Strafkammer des Berliner Landgerichts wegen Totschlags verantworten. Dabei hat er möglicherweise nichts anderes getan, als sich gegen eine Überzahl deutscher Rechtsradikaler zur Wehr zu setzen. Einen 21jährigen Anhänger der „Republikaner“ kostete der Messerstich in die Schläfe das Leben, zwei seiner Freunde wurden an Hals und Lunge schwer verletzt.

Bewaffnete Überfalle von Rechtsradikalen auf Ausländer gibt es in Berlin nicht erst seit Hoyerswerda. Am 10. November 1990 war Ayhan Ö. mit zwei türkischen Freunden und zwei deutschen Freundinnen mit der S-Bahn vom Ostberliner Bezirk Marzahn unterwegs zu einer Diskothek am Alexanderplatz. Am Bahnhof Springfuhl stieg der 21jährige Baufacharbeiter und Anhänger der „Republikaner“ Rene G. mit fünf Freunden zu. Die beiden Gruppen waren an dem nassen, kühlen Novemberabend gegen 22.45 im letzten Abteil der Stadtbahn mit Ausnahme eines älteren Mannes, der nie ermittelt werden konnte, allein. Als der Zug Minuten später in Friedrichsfelde Ost einlief, war es schon passiert. Für den jungen „Republikaner“ Rene G. kam jede Hilfe zu spät. Ayhan Ö., der mit seinen Freunden fluchtartig das Weite gesucht hatte, wurde einige Tage später verhaftet. Nach viermonatiger U-Haft wurde er im März gegen Meldeauflagen entlassen, weil das Gericht eine Notwehr für möglich hielt.

Der 21jährige Ostberliner Rene G. reiste im Herbst 1989 via Besetzung der deutschen Botschaft in Prag nach West-Berlin aus, wo er den „Republikanern“ beitrat. Seinen Tod schlachtete der Berliner Landesvorsitzende Carsten Pagel im Wahlkampf in einer Abgeordnetenhausrede als feigen Mord eines Ausländers aus. Auch im Prozeß ist Pagel mit von der Partie. Der ehemalige Landesvorsitzende leistet Renes Eltern, die inzwischen auch Mitglieder der Reps sind, als Vertreter der Nebenklage Rechtsbeistand.

Ayhan Ö. beruft sich vor Gericht auf Notwehr. Seine Aussage wurde bislang von keinem der Freunde des Toten widerlegt. Allen Zeugen ist deutlich anzumerken, daß sie nichts sagen wollen, was der eigenen Seite schadet. Ayhans Freunde versuchen, jeglichen Eindruck zu vermeiden, daß der Angeklagte ein leicht aufbrausender, jähzorniger Typ sei. Denn selbst wenn das Gericht auf Notwehr erkennen würde, könnte er immer noch wegen fahrlässiger Tötung im Fall einer Überreaktion verurteilt werden. Die Freunde von Rene G. stellen sich als völlig unpolitisch dar. Sie versuchen, sich von jedem Verdacht reinzuwaschen, sie hätten die Auseinandersetzung mit den Türken in der S-Bahn provoziert.

„Ich knall' dich ab“

Der Angeklagte schilderte den Tathergang so: Am Bahnhof Springfuhl seien sechs bis sieben maskierte Deutsche in den Zug gestiegen, hätten ihn eingekreist und laut „Heil Hitler“, „Deutschland den Deutschen“ und „Ausländer raus“ gerufen. Aus Angst, daß er sich mit den Deutschen schlagen würde, habe ihn sein Freund Bünyamin festgehalten und Mehmet sich auf seinen Schoß gesetzt. Zwei Männer hätten ihn mit Waffen bedroht, sagte Ayhan Ö. „Ich knall dich ab“, habe es geheißen, bevor er einen Fußtritt unter das Kinn verpaßt bekommen habe. In Panik, so Ayhan Ö., habe er gedacht „ich oder er“ und zu seinem Messer im Strumpf gegriffen. Wann und wie er zugestochen habe, könne er nicht sagen.

Seine Freunde bestätigten die Aussage im Kern, wenn auch vieles unklar blieb. Der 21jährige Teilezurichter Bünyamin H. wurde vom Gericht hartnäckig danach befragt, warum er Ayhan festgehalten habe. Bei einer früheren polizeilichen Vernehmung hatte Bünyamin gesagt, Ayhan könne sehr aufbrausend sein. Damit, so Bünyamin jetzt, habe er eigentlich nur sagen wollen, daß Ayhan ein ruhiger Typ sei, wenn man ihn nicht zu sehr provoziere. Auch dem 22jährigen Maschinenführer Mehmet A. wurde das Polizeiprotokoll vorgehalten, in dem er erklärte, daß Ayhan im Zusammenhang mit Alkohol jähzornig reagiere. Nunmehr als Zeuge vor Gericht, bestritt Mehmet, bei der Polizei „jähzornig“ gesagt zu haben. „Ich habe mich auf Ayhans Schoß gesetzt, um ihn zu schützen, weil sich die anderen auf ihn konzentrierten.“ Am Schluß seiner Vernehmung stellte Mehmet sarkastisch fest, daß er so eine Situation noch nie zuvor erlebt habe: „Wahrscheinlich muß ich öfters S-Bahn fahren.“

Die 20jährige Wäschereiarbeiterin Carmen E. aus Marzahn war mit Ayhan einen Monat befreundet, als es zu dem Vorfall in der S-Bahn kam. Sie kannte einige der deutschen Jugendlichen aus der Schule, die in Springfuhl „mit Tüchern und Kapuzen“ in den Zug gestürmt seien — „Ich habe gleich gemerkt, daß etwas Schlimmes passieren würde.“ Auf Nachfrage des Staatsanwalts kam heraus, daß die junge Frau in Marzahn als „Türkenschlampe“ beschimpft wird. Körperlich bedroht worden sei sie zum Glück noch nicht, sagte die Zeugin.

Freunde des Toten gebärden sich harmlos

Rene G.s Freunde gaben sich vor Gericht völlig unpolitisch. Mit den Reps, Skinheads oder Hooligans hätten sie überhaupt nichts zu tun, behaupteten sie. Das Lokal „Akaziengrund“, in dem sich die Gruppe an jenem Abend getroffen hatte, sei eine ganz normale Klubgaststätte, in der ein „bunter Haufen“ sportlich gekleideter junger Leute Billard spiele und ab und an sogar ein Ausländer verkehrte. Tatsächlich ist das Lokal ein gerichtsbekannter Treffpunkt für einschlägige rechte Kreise. Keiner der fünf Zeugen — die, abgesehen von dem einen oder anderen leicht herausgewachsenen Bürstenhaarschnitt, vom Aussehen nicht als Skinheads oder Hooligans zu erkennen waren, konnten sich an eine Vermummung in der S-Bahn „entsinnen“. Auch ausländerfeindliche Parolen hatte keiner von ihnen „bewußt“ gehört. Nur der 22jährige Maurer Andreas L. räumte ein, Rene G. über Carmen und ihre Freundin sagen gehört zu haben: „Die treiben sich mit Kanaken rum.“ Auf die Frage, ob es körperliche Angriffe gegen den Angeklagten gegeben habe, verweigerten zwei die Aussage, die anderen wollten nichts dergleichen gesehen haben. Einig waren sich die Zeugen auch darin, daß Gaspistolen erst gezogen wurden, nachdem der Türke „einen nach dem anderen mit dem Messer niedergestochen“ habe.

Der 20jährige Verkäufer Jörg H., ein kleiner, dicker Mann, leistete vermutlich sogar einen Meineid. Bei der Polizei hatte er angegeben, daß fünf aus der Gruppe mit Tüchern, Kapuze oder Sonnenbrille maskiert waren. Vor Gericht schwor er mit dicken Schweißperlen auf der Stirn, damals die Unwahrheit gesagt zu haben, weil er eingeschüchtert worden sei. Aus dem polizeilichen Protokoll geht auch hervor, daß Jörg H. in Leipzig zehn Meter neben dem Hooligan des FC-Berlin stand, der von einem Polizisten erschossen wurde. Nach dem Tod von Rene G. in der S- Bahn soll er laut Protokoll gesagt haben: „Jetzt habe ich den zweiten Kumpel verloren. Der erste wurde von den Bullen in Leipzig erschossen. Jetzt ist Schluß. Jetzt wird zurückgeschlagen.“

Renes Vater, ein Justizangestellter, beschrieb seinen Sohn gegenüber der taz als Mann mit „großem Gerechtigkeitssinn, der nichts gegen Ausländer hatte“. Daß Renes Freundin in einem Berliner Übersiedlerheim von einem Ausländer einmal fast vergewaltigt worden sei, trübte jedoch das Verhältnis zu Ausländern. Renes 22jährige Schwester findet, „man kann doch eine rechte Meinung haben, ohne radikal zu sein“. Ihr Bruder, der „bestimmt kein Rechtsradikaler war“, sei nur bei den Reps geblieben, weil es dort so gute Büfetts gegeben habe.

Was sie von dem Prozeß halten, machten mehrere hundert türkische, arabische und deutsche SchülerInnen bereits am ersten Verhandlungstag während einer mehrstündigen Kundgebung vor dem Kriminalgericht und der anschließenden Demonstration, bei der später auch Steine flogen und acht Leute festgenommen wurden, unmißverständlich klar. „Alle Gerichtsverfahren gegen Brother Ayhan müssen sofort eingestellt werden“, lautet die Forderung, die von ausländischen und deutschen Gruppen von den Autonomen bis hin zur TKP/ML und den Revolutionären Kommunisten unterstützt wird. „Der rassistische und faschistische Angriff auf Ayhan und seine Freunde war nichts Neues. Nur diesmal hat Ayhan sich und seine Freunde erfolgreich verteidigt“, heißt es in einem Flugblatt, das im Döner-Imbiß neben dem Kriminalgericht an die Wand gepinnt ist.

Dem Angeklagten Ayhan Ö. war der Aufruhr gar nicht lieb. Sein Verteidiger, Friedhelm Enners, betonte gleich zu Beginn des Prozesses, daß sein Mandant an einer sachlichen und emotionsfreien Atmosphäre interessiert sei und weder die Sprache noch Inhalt der Flugblätter billige. Dabei ist dem Anwalt vollkommen bewußt, daß vom Ausgang des Prozesses nicht nur das Schicksal seines Mandanten abhängt: „Ein Freispruch“, so Enners, „würde einige Ausländer wieder ermutigen, die sich hier schutzlos ausgeliefert fühlen.“ Andererseits weiß der Anwalt natürlich auch, daß ein Freispruch die Rechten in Rage bringen und den Fremdenhaß in den bestimmten Kreisen noch mehr schüren wird.