„Nicht weiter auf dem Pulverfaß sitzen“

■ Nach dem Unfall wird das AKW erst recht zur Nagelprobe für die ukrainische Präsidentschaftswahl

Der Brand im Atomkraftwerk Tschernobyl könnte die Energiepolitik der unabhängigen Ukraine völlig verändern. Am 1. Dezember findet eine Volksabstimmung statt, und ein neuer Präsident wird gewählt. Seit Wochen ist Tschernobyl eines der Wahlkampfthemen. Gestritten wird besonders darüber, ob die Reaktoren umgehend abgeschaltet werden sollten oder ob sie angesichts der riesigen wirtschaftlichen Probleme in der UdSSR noch bis 1995 weiterlaufen dürfen.

Während der wieder für das Amt kandidierende ukrainische Präsident Leonid Krawtschuk dafür eintritt, die Anlage erst 1995 stillzulegen, fordert sein aussichtsreichster Konkurrent, Wjatscheslaw Tschornowil, ein sofortiges Abschalten. „Tschernobyl versorgt Kiew mit Strom. Wenn wir plötzlich abschalten würden, stünde die Stadt ohne Energieversorgung da“, verteidigte ein Berater von Krawtschuk, Alexander Melnik, die Position des Präsidenten. „Wir können doch nicht weiter auf einem Pulverfaß sitzen“, erklärte hingegen Wladimir Jaworiwski, der Vorsitzende der für Tschernobyl zuständigen Kommission des ukrainischen Parlaments.

Die Ukraine hat gegenwärtig eine Kraftwerkskapazität von etwa 55.000 Megawatt. Die drei übriggebliebenen Tschernobyl-Reaktoren stellen davon nur sieben Prozent, etwa 3.000 Megawatt. Daß die Ukraine durchaus ohne das Kraftwerk auskommen kann, glaubt Lutz Mez von der Forschungsstelle Umweltpolitik der Freien Universität Berlin. Genau wie in den anderen osteuropäischen Ländern „wird der Stromverbrauch auch dort durch den wirtschaftlichen Strukturwandel in den Keller gehen“. Außerdem befinden sich in der Nähe des Reaktorstandortes Tschernobyl noch weitere Kraftwerke, die die Stromversorgung sichern können. Allerdings stellt der Atomstrom in der Ukraine einen relativ hohen Anteil an der gesamten Versorgung dar. Im benachbarten Belorußland wird dagegen gar kein Atomstrom erzeugt.

Internationale Experten halten nicht nur Tschernobyl, sondern viele der 15 Atomkraft-Standorte in der UdSSR für gefährlich. Auch die sowjetische Bevölkerung glaubt nicht mehr an die Atomkraft. Seit 1986 wurden 60 AKW- Projekte wegen ihres Widerstandes abgewickelt. Die komplette Abschaltung aller AKWs würde das Land, das wegen zurückgehender Erdölförderung und Streiks in den Kohlegruben Probleme mit der Energieversorgung hat, allerdings noch vor Schwierigkeiten stellen. baep/ten