Zum Beispiel Kasachstan

Der sowjetische Film auf der Suche nach nationaler Identität  ■ Von Oksana Bulgakowa

Vergangene Woche beschrieb Oksana Bulgakowa auf diesen Seiten die Krise der sowjetischen Filmindustrie, vor allem die Schwierigkeit, das staatliche Kino zu privatisieren. Heute nun ein Blick in die Republiken.

Der russische Schriftsteller Sergej Tretjakow, der in Georgien als Filmberater und Drehbuchautor gearbeitet hatte, zitierte einmal aus einem Schreiben ans Studio: „Hiermit schicken wir Ihnen ein Drehbuch aus dem rumänischen Leben. Kann bei Bedarf auf das georgische Leben umgeschnitten werden.“ In der alten Sowjetunion war das nationale Kino verpönt: Das Studio-Wostok- (Orient-)Kino war in Moskau angesiedelt. Heute nun zerfällt die Union, auch der Film muß National-Farbe bekennen.

So geht zum Beispiel seit geraumer Zeit ein Raunen durch die internationale Filmszene: Der junge kasachische Film gilt als heißer Tip, sorgt für Retrospektiven, für Staunen und für die Hoffnung auf neue nationale Identitätsfindungen am Ausgang des 20. Jahrhunderts. Inmitten des Ausnahmezustands fand in Duschanbe ein Festival des mittelasiatischen Films statt, in einer Republik, die, zumindest zwischenzeitlich, als einzige von der KP nicht verboten war: Tadschikistan. An diesem jungen nationalen Kino fasziniert eine cineastische Raffiniertheit, in der nationale Identität als Kunstphänomen erscheint und nur so, in der Kunst, im Kino, etabliert werden kann. Als Stil. Dieser Stil ist kein „neu gefundener, nationaler“, er hat etwas von der nachempfundenen „kazachit“, um mit Roland Barthes zu sprechen.

Zumal der neue kasachische Film von Koreanern und Litauern, von Russen und Juden begründet wird. Die Filmemacher sind jung, der Filmminister ist Jahrgang '61, der Studiodirektor genauso alt. Sie haben in Moskau studiert, in der Klasse des russischen Regisseurs Sergej Solowjow. Ihre Bewunderung von Bresson, Mizoguchi, Kurosawa ist den Filmen anzusehen. Im Ausland gelten sie als „pur national“, wobei ihre Stilisierung, ihr „Kunst-Gestus“ ignoriert wird.

Dasselbe geschah schon einmal — mit Sergej Paradshanow: Dieser in Georgien geborene Armenier hat einen Film in der Westukraine angesiedelt, einen anderen im armenischen, seinen dritten im georgischen, den vierten im persischen Kulturkreis. Sie alle gelten als „ethnographisch echt“, dabei bleibt Paradshanows Stil immer der gleiche: keine nationale, eine Kunstidentität. Dasselbe gilt heute für den neuen kasachischen, tadschikischen und turkmenischen Film.

Jermek Schinarbajew, ein sowjetischer Koreaner und Studiodirektor von „Kasachfilm“, hat in diesem Jahr eine bemerkenswerte Parabel gedreht, die in Cannes zu sehen war: Die Rache. Der womöglich erste sowjetkoreanische Film überhaupt. Und doch reflektiert er die multinationale sowjetische Wirklichkeit: Ein Dichter wächst zusammen mit einem Kaiser auf, der in den Kriegskünsten gestählt werden muß. Als er groß ist, bittet er den Kaiser um die Erlaubnis, den Hof zu verlassen und in die Welt zu ziehen, da er die Brutalität des Ehrenkodexes nicht aushält. Unvermittelt beginnt irgendwo in einem koreanischen Dorf eine andere Geschichte: Einem Lehrer wird von einem Bauern die Übernachtung verwehrt, aus Rache tötet er dessen einzige Tochter und flieht nach China. Der Vater verpachtet sein Land und zieht hinter ihm her, elf Jahre lang. Als er den Mörder seines Kindes endlich findet, hat er keine Kraft mehr, sich an ihm zu rächen. Er kehrt zurück, nimmt sich ein junges taubstummes Weib zur Frau und zeugt einen Sohn, der zur Rache geboren und erzogen wird. Der Junge ist zwar eher Poet und Philosoph, doch diese Gabe verliert er allmählich, da seine Bestimmung eine andere ist. Er geht auf die Suche und landet — aus der Zeitlosigkeit und dem mittelalterlichen Korea — direkt auf der sowjetischen Halbinsel Sachalin. Dort sind verschiedene, ihrer nationalen Identitäten beraubte Einwanderer versammelt: ein stummer Litauer, eine Rumänin aus Kanada, haufenweise Russen und Koreaner... Der Junge muß nicht nur auf seine dichterische Gabe verzichten, sondern auch auf Frau, Kind und Haus. An der ihm aufgebürdeten Rache-Idee geht er langsam zugrunde, wie einst sein Vater: Als er endlich den Mörder findet, ist der schon tot. Die strengen Bildkompositionen, die Distanz einer statischen Kamera, das weiche Licht, die Farbpalette (weiß, zart grün, sandfarben), die schönen, fremden Gesichter, die Lakonik der Bewegung, die aphoristischen Dialoge — mit diesen Stilmitteln gelingt dem Film eine geschickte Balance zwischen poetischem Märchen und naturalistischer Beobachtung.

Auch Ardak Amirkulows Niedergang von Otrar nach einem Drehbuch des Leningrader Regisseurs Alexej German ist ein Gleichnis über die Suche nach nationaler Identität. Zwischen Tschingis Khan und dem moslemischen Reich in Bagdad liegt Otrar, ein unabhängiger Staat, eigentlich nur eine Stadt, die ihre Selbständigkeit, Sprache, kulturelle Identität und physische Existenz zu bewahren sucht. Ein Spion verrät den Staat und wird auf merkwürdige Weise bestraft. Er verliert seine Identität, mehr noch: die Söhne werden ihm weggenommen und müssen vaterlos aufwachsen — ohne Namen, ohne Muttersprache, ohne historisches Gedächtnis. (Um erzwungenes Vergessen geht es übrigens häufig in den jüngsten Filmproduktionen, so auch in dem turkmenischen Film Mankurt von Narlijew, nach einer Fabel aus Tschingis Aitmatows Der Tag zieht den Jahrhundertweg.) Der Niedergang von Otrar ist kein Kostümfilm: stilisierte Schwarzweißfotografie, weiße Wände, Kleidung und Requisiten aus Leder, Leinen, Holz, Metall — Materialien, deren Authentizität der Oberflächenstruktur geradezu beschworen wird. Sie suggerieren eine authentische, wenngleich nicht reale Ethnographie, die wieder nur als Filmstil existiert.

Die Wiederbelebung des jüdischen Kinos

Zwischen 1919 und 1933 entstanden in der UdSSR etwa hundert jüdische Filme. Danach vielleicht noch zwei oder drei. Die Politik unter Stalin war antisemitisch. 1991 emigrierten bereits 200.000 Juden, im nächsten Jahr rechnet man mit noch mehr Auswanderern. Wer früher in seinem Paß die hinderliche Eintragung „Nationalität jüdisch“ tilgte, sucht heute krampfhaft nach den entferntesten Verwandten, deretwegen die ausradierte Nationalität wieder bestätigt werden könnte, da nur sie die Ausreise möglich macht. Gleich dreimal wurde im vorigen Jahr ein Stoff aus Babels Odessaer Erzählungen verfilmt: als Musical, als Milieu-Melodram und als ambitionierter Kino- Essay: Sonnenuntergang von Alexander Seldowitsch. Biblische Wüste, rote Fahnen, jüdische Melodien, ästhetisierte Schießereien, leichte Melancholie und — die Sehnsucht nach einem verflossenen Leben, nach der abhanden gekommenen jüdischen Identität, nach einem imaginären Odessa. Das alles als filmische Verklärung, als literarischer, „fremder“ Traum, als Stilisierung, die das Nicht-Gekannte und das Nicht-Existente in der Form eines Zitats belebt. Jetzt plant Seldowitsch einen Film über Marc Chagall.

Dmitri Astrachan, ein Regisseur aus dem „ehemaligen Leningrad“, drehte Raus, Satan! nach Motiven von Kuprin, Scholom-Alejchem und Babel, die als Vorlage kaum noch zu erkennen sind: Juden, Ukrainer und Russen wohnen in einer kleinen Siedlung friedlich beisammen. Keine nationalen Probleme. Zwar hat ein reicher jüdischer Milchmann ab und zu Alpträume von einem Pogrom (schreckliche Bilder in Schwarzweiß überkommen ihn: dunkle Tropfen an der Axtklinke, erschlagene Kinder und Frauen, Greise und Männer), doch die farblosen Visionen weichen der bunten Realität, und die sieht aus wie in jüdischen Musicals: Anatevka-Süße. Juden trinken (fast) genausoviel wie die Russen, huren wie die Ukrainer und sind überhaupt nette Menschen (gespielt werden sie vornehmlich von Georgiern und Armeniern). Plötzlich erhält der russische Filmpolizist eine geheime Anweisung aus dem Zentrum: ein Pogrom ist durchzuführen. Die Russen inszenieren im Bunde mit den Juden eine Pogrom, verbrennen die alten Möbel, das Sommerklo und schlitzen Kissen auf. Der russische, ewig betrunkene Polizist wischt sich vor Rührung die Tränen weg. Am Ende dieser herzerweichenden Vision kommt es doch noch zum Chaos: Russen und Juden stehen einander mit Äxten gegenüber. Der Film kann anfangen, doch er ist bereits vorbei.

An Moskauer Zeitungskiosken kann man mittlerweile Mein Kampf kaufen und Die Protokolle des Zionsweisen, auch das Statut der Schwarzhunderter, die sich als Retter Rußlands gebärden, herausgegeben vom gewendeten Militärverlag. Ein Film wie Raus, Satan! ist eine unzeitgemäße, bemüht harmonisierende Reflexion zur „jüdischen Frage“, von der Realität längst übertroffen: Man denke nur an das diesjährige Pogrom in Kischinjow, viele hat es an das von 1904 erinnert, das schlimmste in Rußlands Geschichte.

Es gibt nicht nur die Suche nach jüdischer, kasachischer oder koreanischer Identität im Film. Der Russe Vadim Abdraschitow inszenierte eine Parabel darauf — ohne nationale Färbung: Armawir. Ein Schiff geht unter, viele Passagiere werden vermißt, und für einige ist das die einzige Möglichkeit, ihre Identität zu wechseln, das Gedächtnis und mit ihm jegliche bisherige Verpflichtungen, das vorgezeichnete Schicksal, die Bindungen loszuwerden. Ist das nur durch eine Katastrophe möglich? Die „eigentliche Gegenwart“ ist von dieser Stilsuche nicht ausgeschlossen. Zum Beispiel Identifikation der Wünsche von Talib Chamidow (nach einer Novelle von Borges), angesiedelt im heutigen Duschanbe. Vier Jugendliche mieten sich — als kleinen Racheakt — die Mutter eines Kumpels, die sonst nur „hohe Tiere bedient“, für eine gemeinsame Nacht. Ihre Wünsche werden auf einer sodomitischen Ebene identifiziert: zuvor vergnügten sie sich mit einem Esel. Ausgestopfte Tiere als Versuchsobjekte begleiten die Geschichte als stumme Metaphernträger. Oder eine Dreiecksgeschichte, die keine ist, Zwischen zwei Brüdern von Amir Karakulow: Ein Mädchen kann sich zwischen zwei Brüdern nicht entscheiden, am Ende wird sie von dem älteren sanft umgebracht. Sprachlosigkeit, Atemlosigkeit. Oder: Zwei Brüder fahren über Land, um ihren Vater zu besuchen, der mit einer jungen Frau zusammen lebt. Eine fast stumme Reise durch das vertrocknete Land, Endziel: der ausgetrocknete Aralsee, in dem man nicht ertrinken kann: Brüderchen von Bachtijar Chudonasarow.

Ausgerechnet ein Dokumentarfilm über Sergej Paradschanow schloß für mich den Kreis dieser „allsowjetischen“ Suchaktion inmitten von Nationalitäten, Identitäten und Katastrophen. Bobo (so lautete der Kosename Paradshanows) stößt zunächst durch seinen Voyerismus ab: Der sterbende Paradschanow wird abtransportiert, eine Meute von Fotoreportern und Kameraleuten filmt sein Ableben, ein paar Ärzte scheinen sie dabei nur zu stören. Nach diesem peinlichen Einstieg sieht man, wie dem Toten die Gipsmaske abgenommen wird, eine merkwürdige Operation. Sie wirkt wie ein Bild aus Paradschanows letztem Film, von dem nur 200 Meter existieren, Die Beichte. Das Bild wird gezeigt: ein abgeschnittener Kopf auf einem Teller, eingerahmt von dünnen Altarkerzen. Dazu ein Statement Paradschanows vom Tonband. Nach jenem Drehtag, an dem die 200 Meter gedreht worden waren, hatte er die Aufnahmen zu seiner Beichte abgebrochen: „Meine Kunst braucht niemand“, sagt Bobo. „Die Menschen sind in den tierischen Zustand zurückgefallen. Sie benötigen als Kunst wahrscheinlich etwas sehr Einfaches, das sie wieder menschlicher machen könnte. Niemand braucht meine genialen ästhetischen Übungen. Deshalb lasse ich diese 200 Meter stehen, damit ihr seht, welch ein genialer, nicht gebrauchter Künstler freiwillig schweigt.“ Sergej Paradschanow wiederholte damit den Gestus seines Helden Sajat Nowa, der nach einem Massaker aufgehört hatte zu schreiben. Heute spricht keiner mehr über den Krieg, der noch immer Tag für Tag zwischen Armenien und Aserbaidschan stattfindet. Wenigstens dieses Paradschanow-Porträt (seiner Freunde Narine Mkrtschjan und Arsen Asatian) erinnert daran.

US-Kino als Medizin

Unterdessen sieht das Publikum sich amerikanische Film an, das US-Kino wird von den sowjetischen Filmkritikern gar als stabilisierendes Medium— fast als Medizin — beschworen: Trotz ganzer Berge von Leichen würden dort die elementaren moralischen Grundsätze nicht angezweifelt. Jene Spannung, die früher sowjetischen Film ausmachte — zwischen dogmatisch-offizieller Bildsprache und alternativer Autorenkunst — ist weg. Die Suche nach nationaler Identität wurde dem Film übertragen, einem übernationalen Phänomen.

Das Angebot der vielen kleinen Bücher-Bauchläden, die sich in den Wandelgängen der Moskauer Metro ausgebreitet haben, ist allerdings — zumindest statistisch — nicht national gefärbt: 95 Prozent multinationale Krimis, dann folgen die Bibel, Astrologie und zwei Lehrbücher: Englisch und Deutsch.