Ein Konzept, ein einziges Bild

Wuchtig, witzig: Wernickes „Ring der Nibelungen“ in Brüssel  ■ Von Frieder Reininghaus

Wagners Ring haben fast alle großen Opernhäuser im letzten Jahrzehnt erneut zu bezwingen versucht — und manch mittleres laboriert an diesem musikdramatischen Hauptwerk des 19.Jahrhunderts. Die Produktion von Michael Gielen und Ruth Berghaus, Mitte der achtziger Jahre an der Oper Frankfurt entwickelt, erscheint aus heutiger Sicht als Glanzpunkt einer produktiven Phase des Musiktheatermachens, auch wenn mancher Einwand gegen Ausstattungschic und Symbolanreicherung oder die Anfälle von Geschäftigkeit auf der Bühne nicht vergessen ist. Den Berliner Ring des Götz Friedrich dürften heute selbst manche seiner Lobredner nicht mehr für ein herausragendes Ereignis halten. In der niederrheinischen Provinz realisierten John Dew und Gottfried Pilz in ihren frischen Anfangszeiten die Tetralogie unter dem Aspekt der Naturaneignung und -zerstörung — bis heute unerreicht provokativ und brillant, die leider bis heute nicht wieder aufgenommene Inszenierung in Krefeld und Mönchengladbach. Bloß gediegen kunsthandwerklich und ohne große Linie geriet daneben der „Gemeinschaftsring“ von Knut Horres für Köln, Düsseldorf und Duisburg. Erst angefangen und noch ohne Aussicht auf Vollendung ist Jean-Claude Ribers Großunternehmen für die kleine Bühne in Bonn, gründlich mißraten der Ansatz für Dortmund: Es darf mit Fug und Recht von einer „Ringflation“ gesprochen werden.

Das ist das Hauptproblem bei diesem jetzt wieder so viel bemühten Werk: daß die vier Teile nicht Stück- Werk bleiben und einsichtig wird, warum es trotz mancher historischen Anfechtung doch noch in Szene gesetzt sein will. Die Rechtfertigung legt sich nicht von selbst ab durch die bloße Existenz der Institution Opernhaus und des Abonnentensystems.

Herbert Wernicke ist in Brüssel etwas gelungen, was unmöglich schien. Das ThéÛtre Royal de la Monnaie, eines der edelsten und teuersten Opernhäuser weit und breit (und seit einigen Jahren auch eines der besten), präsentierte die Tetralogie zyklisch, d.h. an sechs Tagen in Folge (mit zwei Pausenabenden zur Schonung der gewaltig in Anspruch genommenen Stimmen). Für das relativ kleine Unternehmen am Muntplein ist der Ring auch über hundert Jahre nach der Entstehung eine erhebliche Herausforderung: das Orchester ist kaum gewohnt, Wagners mitunter so vertrackte Streicherfiguren in rasanter Geschwindigkeit zu absolvieren und über so viele Stunden die mit so viel solistischen Aufgaben ausgestatteten Bläserpartien durchzuhalten. Auch für Sylvain Cambreling, den Chefdirigenten, war die Erfahrung, den Ring einzustudieren und kompakt aufzuführen, neu. „Ich sah darin großartige Augenblicke, aber auch größere Stellen mit Leerlauf“, meinte er. Nun aber glaubt er selbst an deren Daseinsberechtigung. Die Brüsseler Produktion aber sollte Maßstäbe setzen — das war erklärtes Ziel, zumal der scheidende Directeur Gerárd Mortier seine Jahre als Chef der Belgischen Nationaloper mit diesem Projekt gekrönt sehen will. „Wir haben das Glück“, erläuterte Cambreling, „gleichzeitig an allen vier Teilen der Tetralogie zu arbeiten, denn das zwingt uns, sie notwendigerweise als ein einziges Stück in zehn Akten zu betrachten und nur eine dramaturgische Konzeption zu haben“ — so verlockend es sei, dem unterschiedlichen Stil der vier Einzelteile durch vier verschiedene Regie- und Bildkonzepte Rechnung zu tragen.

Ein Konzept also, ein einziger Raum sogar für diesen Ring und seine rund siebzehn Stunden intensiver, anschwellender und absackender, sich zerdehnender und aufbrausender, jedenfalls unermüdeter Musik, die den Brüsseler Musikern hörbar manche Mühe bereitete, die unter Sylvain Cambrelings Händen aber insgesamt gut dargestellt wurde — sowohl in vielen Details wie im großen Strom, der sich ja nur bis zu einem gewissen Grad kalkulieren läßt. Ob Musik solchen Ausmaßes letztlich konsistent wirkt (bei allem, was im einzelnen befremdet), ist nicht zuletzt auch eine Frage des glücklichen Augenblicks. Bei derWalküre-Premiere geriet manches daneben, und man mußte schon ums Ganze fürchten; doch bei Siegfried wühlte sich das Orchester aufwärts, um bei derGötterdämmerung — in Übereinklang mit dem Sängerensemble — einen großen Wurf zu bieten. Eine deutliche Steigerung der Stimmgewalt von Gary Bachlund (als Siegmund) zu William Cochran (als Siegfried), eine Steigerung vor allem auch bei Janis Martin (als Brünnhilde): war sie am Walküre-Tag noch von Intonationsproblemen geplagt, so stand sie am Schluß der Götterdämmerung als die umjubelte Primadonna im hellsten Licht — zu Recht.

Ein einziges Bild nur für zehn riesige Opernakte: das ist schon mutig, fast tollkühn. Es ist eine Halle, wie sie für die Fabriken des 19.Jahrhunderts erstellt worden sein könnte: Eisenbalkendecke, abbröckelnder Putz mit etlichen Einschußlöchern als Andenken der Geschichte (und geschichtsbeladen ist das Stück nun gewiß); mit eisernen Feuerschutztüren und einem riesigen Fenster (dem Hintergrund zu). In diesem zeigt sich felsige Landschaft, durchaus plastisch und zu besteigen, hinter dunklem deutschen Tann. In der fernsten Höhe blinkt das Rheingold. Auf die höchste Erhebung, die Fasolt und Fafner im Rahmen ihres folgenreichen Arbeitseinsatzes planieren, setzen die beiden Riesen die Götterburg. Sie sieht wie der Parthenon aus; der ist als Chiffre mythischen Götterglaubens gesetzt (wohl auch, um die allzu schnellen Assoziationen bei Insignien des Germanenkults an deren Umnutzung durch die Nazis zu vermeiden). Überhaupt ist die Zahl der symbolischen Gegenstände streng bemessen: Drei Lichter erhellen den Einheitsraum (und verleihen ihm so den Charakter eines Ateliers), ein dickes rotes Seil (um Alberich zu fesseln, um das Pferd Grace anzubinden, um kreuzweise über den Nornen zu schweben), der Vielzweckflügel (auf dem verführt und geliebt, regiert und gezürnt, von dem aus gesungen wird und an dem allzeit die tiefschwarz verschleierte Wahrsagerin Erda sitzt), die Gesteinsbrocken (die einem Bildhauer dienen könnten und doch zunächst nur für die Rheintöchter und deren beckisches Spiel da sind, dann vermehrt werden als Hochsitze der Walküren), das lächerlich übertriebene Goldschwert, der hyperrealistisch ausgefallene Hort (mit Dutzenden von Geschmeiden, Bechern, Brustpanzern, Leuchtern) — geschickt spielt die Inszenierung mit dem Wechsel von Leere und Vielfalt, Verfremdung und Wortwörtlichkeit. Es gibt nichts Unnötiges, Dekoratives in dieser Produktion. Die Anordnung und Ausleuchtung der Objekte im Raum wird beständig variiert. Von der Kunst solcher subtilen Veränderung geht, wie von der stets präzisen und oft frappierenden Personenführung, die suggestive Wirkung aus. Wernickes Inszenierung, obwohl insgesamt so ruhig gehalten, entläßt einen kleinen Augenblick aus der Aufmerksamkeit. Das kommt selten genug im Theater vor — und beim Ring fast nie.

Herbert Wernickes Erzählweise der alten und oft vernutzten Geschichte folgt, in allen Verknotungen, streng dem Wortlauf Wagners (einige gedankliche Verwicklungen kommen dazu, zwanghaft). Da die originalen Szenenanweisungen mit herkömmlichen Theatermitteln nicht zu realisieren sind (ggf. nur durch Trickfilm kann der Weltenbrand „realistisch“ werden oder der Rhein über die Ufer des Theaters treten), ließ Wernicke die Regieanweisung Wagners (in deutscher Sprache) auf dem grauen Vorhang einblenden. Die handelnden Personen vollziehen allemal, was Wagner forderte — nur eben wirkt die Kunstlandschaft um sie so verfremdend, daß sich en detail viele hintersinnige Anspielungen und manch vordergründiger Witz ergibt: die Komik beim Machtkampf zwischen Alberich und Mime ist bezwingend, die Dekadenz im Hause Gunthers mitreißend und die Ehekrise bei den Wotans erheiternd — wie die Mutter der Mütter da ihren Willen durchsetzt, ist fulminant; den Inzest von Wotans außerehelichen Zwillingskindern Siegmund und Sieglinde kann und will sie schon gar nicht hinnehmen. Der Rachewunsch erhöht die Zahl der Toten, deren Leichen stets liegen bleiben. So kommt bis zum Ende derGötterdämmerung ein stattlicher Leichenberg zusammen: Wernicke verweist auf die Brutalität des Werks mit einem einfachen, jedoch drastischen Mittel. Selbst Erda, die als Beobachterin auf dem Klavierstuhl stets Präsente, wird von Hagen (vor dessen Mordanschlag auf Siegfried) umgestoßen. Sie fällt, als wäre sie schon lange tot gewesen, wie alle Götter in der Ferne, und mumifiziert, wie die toten Helden ringsum. Die drei Nornen, um den Flügel versammelt, hatten aus einem leeren Buch vorgelesen: leer wie die Bibel, welche der Mann Mose in Wernickes Frankfurter Inszenierung von Arnold Schönbergs Oper aufhob.

Anders aber als letztes Jahr am Main, wo Wernicke nicht nur die Orgie des Blutrauschs wegabstrahierte, die Pferde, Kamele und Schafe wegkürzte, gewährte er in Brüssel jetzt allen von Wagner vorgesehenen Tieren den Zutritt auf die Bühne: den Widdern der Fricka, den Raben Wotans, dem krachend durchs Parkett brechenden Lindwurm, dem (zum Einhorn mutierten) Roß Grane; sogar den Hunden des Oberförsters Hunding. Da wird die Schaulust durchaus befriedigt. Wenn schließlich die Decke über den vielen Toten zusammenbricht, der Himmel Walhalls einstürzt, dann schließt sich der letzte Vorhang einer imposanten Produktion: sie zwingt den Ring noch einmal mit Sinn und Lust zusammen. Die Härten und Schärfen, das Unmögliche dieses Werks, die Zumutungen seiner Rezeptionsgeschichte — all das wird durch die spielerischen Momente hervorgehoben im harten Gegenlicht. Dieser Ring ist ein Glücksfall.