KOMMENTARE
: Korpsgeist

■ Der deutsch-französische Vorstoß zu einer Europa-Streitmacht als historische Zäsur

Sinnkrisen werden in der Regel nicht durch angestrengte Reflexion gelöst, sondern durch Verschiebung der Problemachse und durch Action. Die deutsch-französische Initiative für die Aufstellung einer gemischten europäischen Streitmacht mit einem französisch-deutschen Korps als Kern illustriert dieses Verfahren. Gewiß, es handelt sich zunächst um ein rein politisches Manöver, denn zur Aufstellung und zum Training einer solchen multinationalen Truppe sind Jahre vonnöten. Aber Kohls und Mitterrrands Vorstoß verändern vollständig die Ausgangsbedingungen für die künftige europäische Militärpolitik.

Wozu brauchen wir eigentlich die Nato? Weil die Sowjetunion nach wie vor über ein riesiges atomares Potential verfügt und weil die Gefahr einer diktatorischen Wende nicht auszuschließen ist, antwortete die Nato-Generalität unisono — bis zum Scheitern des August-Putsches. Jetzt werden in den USA und in Rußland Pläne für ein beide Staaten umspannendes Anti-Raketen-Raketen-System ventiliert, womit die in ihrem Aktionskreis auf den ehemaligen Ostblock konzentrierte Nato-Doktrin endgültig einstürzt. Kluge Analytiker haben diese „Katastrophe“ schon lange vorausgesehen und für eine Drehung der Bedrohungsachse Richtung Nord-Süd, sprich eine Ausdehnung möglicher Operationen jenseits des Wendekreises des Krebses plädiert.

Das neue Mini-SDI-Programm der beiden militärischen Supermächte wendet sich bei Licht besehen gegen Länder der dritten Welt beziehungsweise Schwellenländer im Besitz von Atomwaffen. Was aber tun bei regionalen Krisen, wo der „konventionelle Einsatz“ gefordert ist? Reorganisation in Richtung Einsatztruppen? Sich einrichten auf „Middle-Intensity-Warfare“, wie es der Amerikaner Michael T. Klare voraussagt? Weltpolizist spielen?

So manchen europäischen Politiker macht diese Perspektive frösteln. Kohl und Mitterrand behaupten, ihre Initiative würde die Nato stärken. In Wirklichkeit aber eröffnet sie der Europäischen Gemeinschaft ein von den USA unabhängiges militärisches Feld der Intervention. Ist das gut oder schlecht? Stünde nur der europäische Kontinent zur Debatte, so spräche wenig gegen eine multinationale Truppe. Sie wäre die logische Konsequenz aus einem europäischen, kollektiven Sicherheitssystem und hätte Schutzfunktion sowohl gegenüber einem aggressiven Partnerstaat wie auch bei Angriffen „von außen“. Allerdings müßte sie die europäischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion umfassen.

Anders die Lage bei den Staaten, die — freiwillig oder nolens volens — zu einer europäischen Hegemonialsphäre gerechnet würden. Sicher würde nicht jeder Truppeneinsatz in dieser Sphäre dem Verdikt des Imperialismus verfallen. Langwierigen, schreckliche Opfer fordernden Kriegen, die keine der Konfliktparteien gewinnen können, könnte auf diese Weise ein Ende gesetzt werden. Auch würde die Institutionalisierung einer multinationalen Truppe die Bedingungen des Einsatzes regeln müssen und damit der Praxis europäischer Länder ein Ende setzen, mal schnell eine Fallschirmjägerbrigade ins Land X zu verlegen.

Zwei Gründe widersprechen aber einer wie eng auch immer ausgelegten „außereuropäischen“ Intervention: Der Aufbau regionaler Sicherheitssysteme würde geschwächt und die Bemühungen der UNO unterlaufen, mit Hilfe ausgebauter Rechte des Generalsekretärs ein internationales Warn- und Interventionssystem zu errichten. Selbst wenn alle außereuropäischen Beteiligten eines Konflikts die Europäer um militärische Intervention ersuchten — federführend bei ihr bliebe stets die alte Kolonialmacht. Die Folge: vorübergehende Pazifizierung statt Lösung der Probleme.

Das zunächst deutsch-französische, später EG- weite Korps wird zu einem Zeitpunkt vorgeschlagen, wo weder ein kollektives Sicherheitssystem in Europa errichtet noch abgerüstet, noch der erste Schritt der UNO-Reform getan ist. Unter diesen Bedingungen kann die Initiative keine Antwort auf die Probleme sein, die sich aus der zerfallenden nationalstaatlichen Souveränität und dem Ende des Prinzips der Nichteinmischung ergeben. Eine heute konzipierte und morgen aufgestellte multinationale europäische Streitmacht würde keineswegs „zivilen“ Ideen wie der des Vorrangs friedlicher Streitschlichtung verpflichtet sein. Ihre „Entnationalisierung“ würde lediglich einen Korpsgeist befördern, der in den „internationalen“ Söldnerheeren der frühen Neuzeit sein Vorbild hat.

Der französisch-deutsche Vorschlag markiert eine historische Zäsur — die Abkehr von der nationalstaatlichen Armeeorganisation, an der auch zu Nato-Zeiten nie gerüttelt wurde. Aber er pervertiert die vorwärtsweisenden Ideen, die jenseits des Nationalstaats liegen. Christian Semler