Schicksal der Frauen in Thomas' Händen

Mit 52 zu 48 Stimmen ernannte der US-Senat Clarence Thomas zum Obersten Richter/ Im Zweifel für den Angeklagten/ Zwei Drittel der US-Bevölkerung glauben ihm und nicht der Frau, die ihn der sexuellen Belästigung bezichtigt  ■ Aus Washington Rolf Paasch

Die Spannung hielt bis zur letzten Minute an. Die Touristen- und Pressegallerien im Kapitol waren restlos überfüllt, alle Senatoren waren in der Kammer, und Vizepräsident Dan Quayle hatte vorsichtshalber den Vorsitz übernommen, um im Falle eines Patts die entscheidende Stimme abzugeben. Um 18.03 Uhr rief der Sprecher am Dienstag zum „Roll Call“, der namentlichen Abstimmung des US-Senats über die Bestätigung des von George Bush nominierten Kandidaten für das Oberste Gericht.

Um 18.15 Uhr war die Entscheidung gefallen: Mit 52 zu 48 Stimmen— der knappesten Mehrheit für einen Verfassungsrichter in diesem Jahrhundert — war der umstrittene Clarence Thomas zum 106. Richter des Supreme Court ernannt. Trotz erheblicher Zweifel an seiner Qualifikation; trotz der Anschuldigung der sexuellen Belästigung durch seine ehemalige Mitarbeiterin; und trotz der dreitägigen dramatischen Anhörung zu den Beschuldigungen, in deren Verlauf der Schwarze Thomas die Senatoren des Justizausschusses des „Lynchens“ beschuldigte.

Clarence Thomas ist mit seinen 43 Jahren zum Verfassungsrichter auf Lebenszeit geworden, weil die Demokratische Partei in dem Nominierungsverfahren kläglich versagt hatte. Der vom Weißen Haus ausgeheckten Strategie des Kandidaten, seine nachzulesenden erzkonservativen Ansichten hinter nichtssagenden Antworten zu allen politisch relevanten Themen zu verbergen, hatten die demokratischen Ausschußmitglieder nichts entgegenzusetzen. Ebensowenig seiner aggressiven, aber unspezifischen Verteidigung gegen die Anschuldigung der sexuellen Belästigung.

Während die Demokraten Thomas nach seiner Gegenattacke vor den Fernsehkameras in Ruhe ließen, mußte sich seine Anklägerin Anita Hill von den republikanischen Senatoren eine Serie von unziemlichen Angriffen auf ihre Person gefallen lassen. Sie sei nur das Instrument bei einer linksliberalen Verschwörung zur Verhinderung von Clarence Thomas; sie sei eine karrieresüchtige, instabile Frau, die sich die Vorwürfe der sexuellen Belästigung nur zusammenphantasiert habe, behaupteten Thomas republikanische Anhänger. Am Ende erwies sich diese amateurpsychologische „Fantasy“-Interpretation der Anschuldigung als populärer als die These von „Richter Jekyll und Mr. Hyde“ zur Erklärung der pornographischen Vorlieben des ansonsten anständigen Clarence Thomas. Zwei Drittel der Bevölkerung glaubten ihm, nur ein Drittel seiner Anklägerin.

In einem allerdings stimmen alle Kommentatoren und Anhänger beider Seiten überein. Der Schaukampf zwischen Thomas und Hill habe endlich das bisherige Tabuthema der sexuellen Gewalt gegenüber Frauen am Arbeitsplatz in den USA diskutierfähig gemacht. Doch selbst der Wert dieser Debatte muß nach dem Ausgang der Abstimmung zweifelhaft erscheinen. Zum einen zeigen schon die ersten Annäherungen der Medien an diese Problematik, wie oberflächlich und technisch diese Auseinandersetzung verlaufen wird. Zum anderen ist die Botschaft an sexuell belästigte Frauen nach dem Ausgang des dreitägigen Schaukampfes zwischen dem Beschuldigtem und seiner Anklägerin eindeutig: Jede Frau bekam erneut vorgeführt, welchen Vorurteilen, Anfeindungen und Erniedrigungen sie sich aussetzt, wenn sie mit ihrem Vorwurf der sexuellen Belästigung an die Öffentlichkeit geht.

Wenn die Frauen durch den Fall Thomas gegen Hill schon nicht zur Anzeige von sexueller Gewalt ermutigt werden, so könnte das Drama über die Ernennung des erzkonservativen Richters doch zu einer Repolitisierung der amerikanischen Frauenbewegung beitragen. Die Empörung vieler Frauen darüber, daß hier ausgerechnet der Männerklub von 98 Senatoren — in dem sexuelle Belästigungen der weiblichen Angestellten an der Tagesordnung und Quotierungsregeln unbekannt sind — über die Glaubwürdigkeit der klagenden Frau abstimmte, wird politische Folgen haben. Der sogenannte „gender gap“, das unterschiedliche Abstimmungsverhalten von Männern und Frauen in wichtigen politischen Fragen, wird sich weiter vergrößern und beide Parteien vor Probleme stellen.

Wenn Richter Thomas seine Stimme im kommenden Jahr auch noch zur Annullierung des Verfassungsgerichtsurteils „Roe versus Wade“ und damit zur Aufhebung der Abtreibungsfreiheit abgibt, dann droht der republikanischen Koalition die Spaltung entlang der Abtreibungsfrage — und dem immer noch von Männern dominierten politischen System ein noch nicht dagewesener Aufstand der Frauen.

Noch also ist unklar, ob die Niederlage von Anita Hill gegen Richter Thomas nur eine weitere Episode im „backlash“ der Reagan/Bush-Ära gegen die Errungenschaften der Frauenbewegung darstellt. Oder ob sie zum Ausgangspunkt einer neuen feministischen Kritik an dem trotz fortschrittlicher Gesetzgebung weiterbestehenden Machtungleichgewicht zwischen den Geschlechtern wird. Die Antwort auf diese Frage könnte in den Händen von Verfassungsrichter Thomas liegen.