Nobelpreis für Frankreichs Isaac Newton

■ In diesem Jahr erhält der französische Physiker de Gennes von der Schwedischen Akademie der Wissenschaften 1,6 Millionen Mark/ Sein Verdienst: Er kann den Übergang von der Ordnung in die Unordnung plausibel erklären

Stockholm (ap/dpa/taz) — Spätestens seit der Verleihung von Nobelpreisen werden wissenschaftliche Entdeckungen immer wieder personifiziert. Oder denken wir bei einem Blick auf die Digitaluhr oder den Bildschirm sofort an den Franzosen de Gennes? Wohl kaum. Seit Mittwoch reiht er sich in die Liste der Nobelpreisträger für Physik ein.

Der 58jährige Pierre-Gilles de Gennes ist Grundlagenforscher auf dem Gebiet der Molekularphysik und wird von seinen Pariser Kollegen seit langem als „Isaac Newton unserer Zeit“ gehandelt. Er hat herausgefunden, daß Moleküle und komplexere Verbindungen (Polymere) unter bestimmten Bedingungen — beispielsweise bei höheren Temperaturen — gesetzmäßiger reagieren als angenommen.

Einige dieser Verhaltenssysteme sind so kompliziert, daß Physiker sie bisher auf keinen gemeinsamen Nenner hatten bringen können. Das ist de Gennes nun in mehreren Fällen gelungen, insbesondere bei Flüssigkristallen und Polymeren, ohne die in der Computertechnik und Unterhaltungselektronik nichts mehr laufen würde.

Molekülketten stürzen sich in die Unordnung

Die optischen Eigenschaften von flüssigen Kristallen wurden zuerst in den sechziger Jahren für die Zahlenanzeige bei Taschenrechnern und Armbanduhren genutzt. Auf flachen Schirmen können sich Bilder, Grafiken, Buchstaben und Ziffern bilden. Die Flüssigkristalle bestehen aus langgestreckten Molekülketten, die einerseits Fließeigenschaften haben, und andererseits wie eine feste, kristalline Materie beschaffen sind. Die Flüssigkristallanzeige, auch LCD (liquid crystal display) genannt, ist aus zwei parallelen Glasplatten aufgebaut, in deren nur fünf bis zehn Millionstel Millimeter dünnen Zwischenraum die kristalline Flüssigkeit schlummert.

Die Innenseiten der Glasplatten sind mit durchsichtigen Metallverbindungen beschichtet, die elektrischen Strom leiten können. Zunächst lagern sich die stäbchenförmigen Moleküle der Flüssigkeit so zusammen, daß sie das einfallende Licht durchlassen. Werden die Moleküle unter Strom gesetzt, fangen sie an, sich zu drehen, ändern also ihre Lage, und lassen das Licht nicht mehr durch. Sie stürzen sich von der Ordnung in eine scheinbare Unordnung. Jeder einzelne Strich eines Anzeigenfeldes bei der Uhr oder beim Taschenrechner ist dabei eine eigenständige Flüssigkristallzelle mit eigener Stromversorgung. Ein einfacher Computerbildschirm hat beispielsweise 250.000 einzelne Bildpunkte und Farbfernseher noch viel mehr.

De Gennes hat nun versucht, Ordnung in die Unordnung zu bringen. Außerdem hat er beschrieben, wie man in auf den ersten Blick sehr verschiedenartigen physikalischen Systemen wie Magneten und Supraleitern Ähnlichkeiten und Gesetzmäßigkeiten feststellen kann. Bei einem Magneten geschieht der Übergang von Ordnung zu Unordnung bei einer ganz bestimmten Sprungtemperatur. Oberhalb dieses Punktes bricht die Ordnung der atomaren Magnete zusammen, und der Magnet verliert seine vorherigen Eigenschaften. Durch de Gennes Erklärungen sind Wissenschaftler in der Lage mit Hilfe einer komplizierten Steuerung ganz gezielte Veränderungen der Ordnung herbeizuführen.

Starke Kleber statt Nägel und Niete

Der Physiker gründete bereits gegen Ende der sechziger Jahre die Flüssigkristallgruppe in Orsay, Frankreich. Derzeit interssiert er sich besonders für „superglues“, extrem starke Kleber, deren Wirkung auf die Materialien noch nicht bekannt ist. Ihre Erforschung ist von großem Interesse für die Industrie. Der Physiker kann sich vorstellen, daß eines Tages selbst im Flugzeugbau geklebt und nicht mehr genietet wird.

De Gennes ist der achte Franzose, der mit dem Nobelpreis für Physik geehrt wird. Der Preis ist mit — umgerechnet — 1,65 Millionen D-Mark dotiert. Damit will de Gennes der von ihm geleiteten Pariser Hochschule für Physik und Chemie — an der auch schon die Curies gearbeitet haben — „über Probleme hinweghelfen“.

Preisträger De Gennes ist ein bescheidener Mensch: „Meine sieben Kinder sind mir wichtiger als jede Belohnung.“ Am 10. Dezember, dem Geburtstag Alfred Nobels, wird er seinen Preis in Stockholm entgegennehmen. baep