„Berufsverbotsgesetz“ in der CSFR in Kraft

Hunderttausende ehemaliger Kommunisten betroffen/ Unschuldsvermutung gilt nicht/ Beutementalität der Konservativen  ■ Aus Prag Sabine Herre

Fast zwei Jahre lang forderten die „samtenen Revolutionäre“ des Herbstes 1989 die „nationale Versöhnung“, nun hat auch sie die Vergangenheit eingeholt. In der Tschechoslowakei beginnt die „Debolschewisierung“. Den kommunistischen Säuberungswellen der Jahre 1948 und 1969 folgt eine weitere — diesmal mit umgekehrten Vorzeichen: Fünf Jahre lang, bis zum 31.12.1996, dürfen in der staatlichen Verwaltung, in den staatlichen Medien und der Staatsbank, der Akademie der Wissenschaften und der Armee sowie in den führenden Positionen der Staatsbetriebe keine „Angehörigen“ der „alten Strukturen“ tätig sein. Konkret heißt dies: Mehrere hunderttausend Personen — manche Schätzungen gehen sogar bis zu einer Million — müssen nachweisen, daß sie weder Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes noch Mitglieder der Volksmiliz noch KP-Funktionäre in einer höheren Position waren. Gelingt dieser Nachweis, den das Innenministerium gemeinsam mit einer unabhängigen Kommission erstellt, nicht, muß der Antragsteller seinen Posten räumen. Die Abgeordneten der Föderalversammlung verabschiedeten mit den Stimmen der konservativen Parteien ein Gesetz, für das ihre liberalen und linken Gegner ohne Zögern das deutsche Wort „Berufsverbote“ in der tschechischen Sprache wählten.

Dabei hatten zunächst alle Parteien durchaus ein Interesse an einer gesetzlichen Regelung der „Durchleuchtung“. Immer wieder und immer länger war über die Prinzipien der Überprüfung der Parlamentsabgeordneten und Regierungsmitglieder diskutiert worden, immer lauter wurden die Stimmen, die eine Säuberung von Ämtern und Betrieben forderten. Die „Mafia“ der real-sozialistischen Mangelwirtschaft sollte die Einführung von Demokratie und Marktwirtschaft nicht länger behindern können.

Dann jedoch wurde der Gesetzesentwurf der Regierung Calfa vor allem von den Abgeordneten der Bürgerlich-Demokratischen Partei ODS in mehreren Punkten verändert: Der Kreis der zu überprüfenden Personen wurde ebenso erweitert wie die Anzahl der verurteilungswürdigen früheren Funktionen. Vor allem aber: In dem nun verabschiedeten Gesetz muß im Gegensatz zur Vorlage der Regierung die individuelle Schuld — die Verletzung der Menschen- und Bürgerrechte — nicht nachgewiesen werden. Stattdessen können Tausende bereits allein aufgrund ihrer Mitgliedschaft in den genannten Organisationen überprüft werden.

Für eine Reihe von Abgeordneten ebenso wie für den Gewneralstaatsanwalt der CSFR ist das Gesetz unvereinbar mit den europäischen Menschenrechtsabkommen. An die Stelle der Unschuldsvermutung trete die „Kollektivschuld“. Auf diesem Weg könne die Tschechoslowakei nicht zu einem Rechtsstaat werden. Erinnert wird auch an die bisherigen „Lustrations“-Erfahrungen. Zahlreiche der Mitarbeit beim Staatssicherheitsdienst beschuldigte Abgeordnete führen inzwischen langwierige Gerichtsprozesse. Die Gültigkeit des zur Überprüfung verwendeten Materials sowie die Arbeit der damit beauftragten Kommission wird von ihnen in Frage gestellt.

Im Zentrum der Kritik steht die pauschale Verurteilung der eigenen Geschichte. Ausschlaggebend für ein Berufsverbot ist eine Mitarbeit bzw. Mitgliedschaft in den genannten Organisationen in der Zeit vom 25.2.1948 — dem Tag der „kommunistischen Machtübernahme“ — bis zum 17.11.1989 — dem Beginn der „samtenen Revolution“. Eine Ausnahme bilden allein die wenigen Monate des Prager Frühlings, in dieser Zeit — so heißt es von konservativer Seite — hätten selbst die Kommunisten sich für eine Demokratisierung ihres Systems eingesetzt. Von Entlassung bedroht ist somit — neben zahlreichen anderen reformkommunistischen Oppositionellen der vergangenen 20 Jahre — auch Alexander Dubcek. Dieser wurde zwar erst im Januar 1968 Generalsekretär der KPC, übte aber bereits zuvor höchste Parteiämter aus. Von Entlassung bedroht sind Millizionäre, die im August 1968 den „illegalen“ Reformparteitag der KP vor den sowjetischen Panzern schützten. Von einer Entlassung bedroht könnte bei einer geplanten Erweiterung des Gesetzes jedoch fast jeder zweite Tscheche und Slowake sein. Denn, so Außenminister Jiri Dienstbier in einem Kommentar der 'Lidove Noviny‘: Nach dem zweiten Weltkrieg verfielen nicht einige wenige, sondern nahezu 40% der Bevölkerung der „falschen Ideologie“, bei den letzten freien Wahlen 1946 gaben 40% ihre Stimme der KPC. Dienstbier biblisch und bildhaft: Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein.

Bildhaft wurde auch Staatspräsident Vaclav Havel in seiner Beurteilung des Gesetzes: Eine Gänsehaut bekomme er beim Lesen der Bestimmungen, nun breche die Zeit der Rache an. Diese Rache zu verhindern, ist jedoch weiterhin das Ziel des Präsidenten. Zwar wird er das Gesetz entgegen erster Überlegungen unterschreiben, gleichzeitig will er aber Vorschläge zu seiner Nivellierung vorlegen.

Eine Abschwächung der Gesetzesbestimmungen wird jedoch nicht nur von dem tschechischen Ministerpräsidenten Petr Pithart für wenig wahrscheinlich gehalten. Denn, so die Kommentatoren der Zeitungen, bei der dreitägigen, mit allen Verfahrenstricks geführten Parlamentsdebatte fiel auch der Startschuß für den Wahlkampf: Im Juni 1992 finden in der CSFR die zweiten „nachkommunistischen“ Parlamentswahlen statt. Die Aussichten für das noch regierende Bürgerforum Jiri Dienstbiers werden dabei immer schlechter. Zum einen gelang es den konservativen Gruppierungen zum erstenMal, die ehemaligen Oppositionellen eindeutig in eine Ecke mit den linken Parteien zu stellen. Außerdem — und dies scheint nicht der unwichtigste Grund für die Verabschiedung des Gesetzes gewesen zu sein — werden durch seine Anwendung eine Unmenge der einflußreichsten Positionen frei. Der Streit um die Aufarbeitung der Vergangenheit entpuppt sich so als der Kampf um die Macht von morgen.