Stoltenberg zu Kollege King: „Lügner“

Hinter den Kulissen der Nato-Tagung tobt eine Schlammschlacht über deutsch-französische Initiative  ■ Aus Taormina Andreas Zumach

„Wenn Sie schon lügen, dann suchen Sie sich besser ein Thema aus, bei dem man Ihnen die Unwahrheit nicht so leicht nachweisen kann!“ Ungewöhnlich scharf blaffte Gerhard Stoltenberg seinen britischen Kollegen Tom King am Mittwochmorgen in der Runde der 15 Nato-Verteidigungsminister an. Dies berichtete am Abend des ersten Sitzungstages der Nuklearen Planungsgruppe (NPG) der NATO im sizilianischen Taormina General Schade, der stellvertretende Leiter des Planungsstabes der Hardthöhe.

Voller Empörung zieht Stoltenberg über die Verbündeten von der Insel her. King habe sich „wie ein heruntergekommener Kolonialoffizier aufgeführt“. Des weiteren rühmt General Schade diese 50. NPG-Tagung als die „bislang ehrlichste überhaupt“. Im Verlauf der Debatte über die deutsch-französische Initiative für eine westeuropäische Sicherheitspolitik wie auch bei den Diskussionen um eine Veränderung der Nato-Kommandostrukturen hätten „alle Teilnehmer die Masken fallengelassen“ — Briten, Deutsche, aber auch kleinere Staaten wie die Niederlande, Norwegen oder Dänemark. Der General: „Es sind die nackten nationalstaatlichen Machtinteressen zum Vorschein gekommen.“

Noch am Mittag des ersten Tages schien die Welt für Stoltenberg in Ordnung. Nach einem bilateralen Treffen mit King am Mittwochabend, bei dem dieser „eine Reihe kritischer Fragen gestellt“ habe, hätten der britische sowie sechs andere Verteidigungsminister, die in der Plenardebatte um die deutsch-franzöische Initiative das Wort ergriffen hatten, „äußerst positiv“ auf seine, Stoltenbergs, „Erläuterungen“ reagiert. „Gerhard und sein Freund Tom verstehen sich prächtig“, verbreiteten die Presseoffiziere der deutschen Delegation.

Aus Kings Mund klingt das alles ganz anders. Die Einwände und Fragen der Briten zu Einsatzauftrag, Zusammensetzung und Kommando der von Kohl und Mitterrand vorgeschlagenen westeuropäischen Streitmacht mit starkem deutsch-französischen Anteil sowie deren Verhältnis zur Nato seien auch nach Stoltenbergs Erläuterungen nach wie vor „gravierend“. King wiederholte ausdrücklich die erste Reaktion seines Kabinettskollegen, Außenminister Hurd: „Gefährlich“. Auch die Niederländer, so King, hätten noch „sehr weitgehende Fragen“ an die deutsch-französische Initiative.

Auf die Frage, wann die britische Regierung über diese Initiative informiert wurde, antwortete King voller Süffisanz. Noch am letzten Sonntag, als er und Hurd sich mit ihren französischen Amtskollegen Joxe und Dumas trafen, sei „die deutsch-französische Initiative offenbar noch nicht weit genug entwickelt gewesen, um uns darüber zu informieren“.

Es sind derartige Bemerkungen des Briten, die Stoltenbergs Lügenvorwurf provozierten. Nach offizieller Bonner Darstellung wurde London ebenso wie Washington vorab informiert. US-Verteidigungsminister Cheneys Staatssekretär Hatley weiß davon nichts. Sein Chef erfuhr die Neuigkeit erst auf dem Flug nach Taormina, nachdem am Dienstagabend die ersten Informationen an die Öffentlichkeit gedrungen waren. Auf die Frage an die Verteidigungsminister King und Cheney bei der gestrigen Abschlußpressekonferenz, wann genau und wie detailliert sie, bzw. ihr Premierminister/Präsident oder Außenminister informiert wurden, hielten beide fünfminütige Statements, ergänzt durch einen längeren Beitrag von Nato-Generalsekretär Wörner. Auf die Frage gingen sie nicht ein.

In Taormina bestätigte sich der Eindruck, daß auch die Hardthöhe von Kohl überhaupt nicht oder zumindest viel weniger als das französische Verteidigungsministerium von Mitterrand an der Entwicklung der Initiative beteiligt wurde. Ob Stoltenberg Bescheid wußte, ist unklar. General Eisele, immerhin Sekretär des deutsch-französischen Sicherheitsrates war nach eigenen Angaben bis zuletzt nicht eingeweiht und sprach von sich selbst als einer „nachgeordneten Schranze“.

Das Gezänk darum, wer wen wann wie detailliert informiert hat, wäre die Schilderung nicht wert, wäre es nicht ein Indiz für den tiefgehenden Konflikt in der Sache. Diese wiederum ist Ausdruck der sich verschärfenden Auseinandersetzung zwischen den drei westeuropäischen Hauptmächten Frankreich, Großbritannien und Deutschland um Stellung und Einfluß in (West)Europa. Diese Auseinandersetzung wird nach wie vor nach militärisch definierten Machtkategorien ausgetragen. Die beiden wirtschaftlich Schwächeren (Frankreich und Großbritannien) bestehen darauf noch stärker als Deutschland, wie das Beharren Londons und Paris auf eigenen Atomwaffenarsenalen zeigt. Aber auch Bonns Befürwortung von Straßbourg als Standort des geplanten deutsch-französischen Armeekorps folgt diesen Kategorien alten Denkens, wie General Eisele in Taormina deutlich machte. Dann wären endlich auch „deutsche Soldaten in Frankreich stationiert“ und nicht nur umgekehrt.

Angesichts dieser Auseinandersetzungen, die die Nato künftig noch stärker in Atem halten wird, ist das ohnehin vorab bekannte Ergebnis der Diskussionen über Atomwaffen fast nebensächlich. Über die bereits von Präsident Bush angekündigte Verschrottung aller landgestützten taktischen Atomwaffen hinaus beschlossen die Verteidigungsminister die Reduzierung der flugzeuggestützten Abombomben um 50 Prozent auf etwa 720. Die Option zur „Modernisierung“ dieser Bomben durch neue atomare Abstandsraketen hält das Abschlußkommuniqué ausdrücklich offen. Die von Gorbatschow geforderte Absage an die Doktrin des Ersteinsatzes von Atomwaffen lehnten die Minister ausdrücklich ab — obwohl das bisher zu ihrer Begründung dienende Szenario eines übermächtigen konventionellen Angriffes auf Westeuropa weggefallen ist.