„Ohne Auto bliebe ich nur noch zu Hause“

Die Angst vor Gewalt verbreitet sich unter dunkelhäutigen Menschen wie eine Plage und greift inzwischen weit in den Alltag der Betroffenen ein/ Iranerinnen, Türkinnen und eine Afrodeutsche erzählen, wie sich ihr Leben verändert hat  ■ Aus Berlin Ulrike Helwerth

Rezwan hat Sorgen. Gegen ihren 18jährigen Sohn Pooyan läuft derzeit eine Anzeige wegen Körperverletzung. Neulich in der U-Bahn klimperte er auf seinem Taschencomputer. Das störte einen deutschen Nebenmann; er stieß dem Jungen das übergeschlagene Bein weg und meinte: „So bequem kannst du hier nicht rumsitzen.“ Pooyan riß die Faust zur Abwehr hoch, beteuert aber, er habe nicht zugeschlagen. Der Mann jedoch rief um Hilfe, Fahrgäste mischten sich ein, die Polizei war gleich zur Stelle. Pooyan wurde drei Stunden verhört. „Er hat seitdem nur noch im Kopf, wie er sich wehren kann, und trägt seit neuestem ein Taschenmesser mit sich herum“, erzählt Rezwan bedrückt. Sie fürchtet, ihrem Sohn könne es ergehen wie dem 22jährigen Ayhan Ö., der letztes Jahr einen 21jährigen „Republikaner“ in der S- Bahn in Berlin erstach. Aus Notwehr, wie das Gericht diese Woche entschied und den jungen Türken freisprach. Rezwan hat sich vor kurzem ein Auto gekauft, damit fährt sie ihre Söhne zur Schule oder zum Sportplatz und holt sie wieder ab. Das ist teuer und verkompliziert ihr Leben. Aber sie fühlt sich dadurch sicherer. Aus den gleichen Gründen hat sie jetzt auch ihren mittleren Sohn von der Gesamtschule genommen und in einer Waldorfschule angemeldet. Die 38jährige Rezwan ist Iranerin und lebt seit sechs Jahren in Berlin, ihr Asylverfahren läuft. Nicht nur ihr Leben hat sich in den vergangenen Monaten verändert. „Ich habe mich noch nicht eingeschränkt, aber eine früher unbekannte Angst sitzt mir jetzt ständig im Nacken“, sagt ihre Landsfrau Fahime, seit 20 Jahren in Berlin. Auf der Straße und in den öffentlichen Verkehrsmitteln schaue sie keinem mehr ins Gesicht, denn „jeder Deutsche in meiner Nähe könnte ein potentieller Faschist sein“. Auch die 40jährige Pari, ebenfalls aus dem Iran, hat zum ersten Mal „regelrecht Angst“ auf den Berliner Straßen, obwohl sie seit 18 Jahren hier ist und sich bisher „wohlfühlte“. Sie meidet die öffentlichen Verkehrsmittel, fährt fast nur noch mit dem Wagen. „Ohne Auto würde ich nach Einbruch der Dunkelheit nur noch zu Hause bleiben.“ Sie fragt sich auch, was aus ihrer Tochter wird, die hier geboren und großgeworden ist. „Als Ausländerin hat sie kein Recht, die Erziehungsperspektive ist deprimierend.“ Rezwan hat ihrem Ältesten Vorhaltungen wegen der U-Bahn-Geschichte gemacht. Wütend hat er sie gefragt, seit wann sie zu den Rassisten halte. „Wir reden mit unseren Söhnen, daß Gewalt kein Mittel gegen Rassismus sein kann. Aber sie reagieren ja nur auf die äußeren Umstände, lernen, daß sie sich zur Wehr setzen müssen.“ Die Erziehung wird widersprüchlich, besorgt beobachten die Mütter, wie sich immer mehr junge Ausländer zu Banden zusammenschließen. Die 17jährige Nazan findet es völlig richtig, daß sich ihr Landsmann Ayhan Ö. mit dem Messer gegen den „Nazi“ gewehrt hat. Doch Nazan räumt auch „den vielen türkischen Jungen, die randalieren oder Ladendiebstähle machen“, eine gewisse Mitschuld an der wachsenden AusländerInnenfeindlichkeit ein. Sie hat „persönlich keine Angst. Meine Mutter hat mich wie einen Jungen erzogen, und ich bin stolz und kann mich wehren“, sagt sie mit Nachdruck. Sie ist hier geboren und fühlt sich „wie eine Berlinerin. Wir haben Deutschland mit aufgebaut, es ist auch ein Teil von uns. Auch wir zahlen Millionen Steuern.“ Trotzdem kann sie nicht verhindern, daß sie immer wieder als „Scheißtürkin“ angemacht wird. Auf Besuch in der Türkei heißt es dann „Scheißdeutsche“. Nazan fühlt sich heimatlos.

Ihre Klassenkameradin Ayse darf fast nicht mehr aus dem Haus, weil ihre Eltern Angst haben. Zur Schule aber geht die 17jährige Türkin weiter. In diesem Punkt hat sie sich gegen ihren Vater durchgesetzt, der nicht wollte, daß sie jeden Tag den weiten Weg von ihrem Wohnort Spandau zur Kreuzberger Schule macht. „Wenn ich hier bleibe, muß ich damit fertig werden“, hat Ayse erwidert. Ihre ältere Schwester, die ein Kopftuch trägt, hat seit neuestem immer ein Tränengas-Spray dabei.

Mit einem Messer bewaffnete sich Madeleine. Allerdings nur zwei Wochen lang. Denn die 24jährige Afrodeutsche wußte nicht, wie sie es einsetzen sollte und hatte Angst, womöglich jemanden umzubringen. Mit ihren 1,80 Metern fühlt sich Madeleine nicht als „Opfertyp“. Dennoch ist sie wesentlich vorsichtiger geworden. Mit dem Rad fährt sie nachts nur noch in ihrem Wohnbezirk Kreuzberg herum. Ihre jüngere Schwester wurde kürzlich von zwei Skins auf offener Straße verprügelt und ihrer Tasche beraubt. „Sie hat zurückgeschlagen“, erzählt Madeleine mit Hochachtung. Gerade war sie beim Bundestreffen der „Initative Schwarze Deutsche“ (ISD) in Bremen, einer Hochburg der rechtsextremistischen DVU. Zum ersten Mal wurden dort Wachen organisiert, die mit Baseballschlägern um das Haus patroullierten. „Die Medien, alle reden davon, daß es schlimmer wird, und wir haben die ganze Zeit nur über Selbstschutz diskutiert. Ich frage mich allmählich, ob die Situation real so schlimm ist, oder wir mit unserer Angst die Stimmung aufputschen bis zum Verfolgungswahn“, wird Madeleine nachdenklich. Gewalt habe es auch früher schon gegeben. „Inzwischen aber ist mir der Maßstab völlig verloren gegangen.“