„Die Perspektive ist schlecht, auf deutsch: beschissen“

In Oberschlesien ist der Segen der Bodenschätze zum Fluch geworden Polnische Bürokratien reagieren hilflos auf die permanente ökologische Katastrophe  ■ Von Hermann-Josef Tenhagen

Katowice (taz) — Zornesröte steigt dem Vizeumweltminister ins Gesicht. Nein, er hat keinen Zaun um den See bauen lassen. „Da ist doch kein Schulweg, bloß eine Lieferantenstraße.“ Der Tümpel ist wirklich nicht das einzige ökologische Problem, mit dem er, Bernard Blaszczyk, zu kämpfen hat. Da kann man ja gleich die ganze Wojwodschaft Oberschlesien einzäunen. Es gibt schließlich 800 Betriebe, wie das 150 Jahre alte Hajduki-Chemiewerk, das seit Mitte der fünfziger Jahre giftige Abwässer in den „Phenolsee“ sickern läßt. Ergebnis: neun Hektar rötlich-rostbraune, stinkende Brühe — 500 Milligramm Phenol pro Liter.

Im Stahlwerk zischt es aus allen Rohren

Zwei Welten prallen aufeinander. Der polnische Bürokrat und die westlichen Journalisten, die nicht verstehen können, warum Blaszczyk von den großen Lösungen redet und die kleinen nicht umsetzt. Dabei ist er bis vor wenigen Jahren noch selbst Chef der Umweltverwaltung in der Woiwodschaft gewesen. Und der Phenolsee von Swieto-Chzowice lag vor seiner Haustür.

Große Probleme und fehlende kleine Lösungen sind typisch für Oberschlesien. Das Stahlwerk Kosciuszko im benachbarten Chorzow ist schon 1802 gegründet worden. Seit dem wird hier in Sichtweite der Fördertürme des oberschlesischen Kohlereviers Stahl gekocht. Mit dem Schmieden von Eisenbahnschienen erlebte die Hütte schon 1860 ihre Glanzzeit. In den letzten zwei Jahren hat die Kokerei zu 75 Prozent dicht gemacht, berichtet der stellvertretende Direktor Bogdan Sikora. Das Werk hat damit seine Stickoxid- und Schwefeldioxidemmissionen um 80 Prozent verringert. Statt 12.000 Tonnen Schwefeldioxid werden jetzt 3.100 Tonnen jährlich in die Luft gepustet. Ein Hochofen aus den vierziger Jahren (made in USA) ist gerade erst stillgelegt worden, ein weiterer, etwas jüngerer aus ostdeutschen Reparationen soll in zwei Monaten dichtgemacht werden. Und die Belegschaft wird dann von einstmals 9.000 Beschäftigten auf 3.000 Stahlkocher geschrumpft sein.

Mit neuer, teurer Technologie wird es im kommenden Jahr wieder aufwärts gehen, hofft Sikora. Bei der Werksbesichtigung klingt dieser Wunsch noch wie ferne Zukunftsmusik. Überall zischt es aus undichten Rohren, bräunlicher Dampf steigt aus den Schornsteinen, die Werkseisenbahnschienen laden zum Entgleisen ein.

Hundert Jahre jünger ist die Bobrek-Hütte im benachbarten Beuthen. Hier zischt und dampft es weniger aus undichten Rohre. Aber auch hier kochen uralte Siemens-Martin- Hochöfen, die im Ruhrgebiet seit Jahrzehnten außer Dienst sind, mit einem immensen Energieeinsatz den Stahl. Von einst 4.500 Stahlarbeitern sollen nur 2.400 übrigbleiben. Neue Technologie, neue Öfen müssen her, fordern die polnischen Werksingenieure. Sonst steht 1993 der letzte Ofen still.

„Wenn bis dahin nicht Geld für ein Sanierungskonzept kommt, machen wir hier die Tür zu“, droht Chefkonstrukteur Henryk Lukaszczyk unverblümt. „Soll doch die Regierung alles abbauen.“ Stahlarbeiter Klaus Fiedler, seit 33 Jahren im Betrieb, faßt es auf seine Weise zusammen. „Die Perspektive ist schlecht, auf deutsch: beschissen.“

Die Hütten und die Kohlehalden prägen das Bild von Oberschlesien. 68 Zechen haben in der Region noch vor wenigen Jahren bis zu 190 Millionen Tonnen Steinkohle gefördert. Heute sind es rund 120 Millionen Tonnen — nicht gerechnet die 600 Millionen Tonnen Abraum. Die Region gehört regierungsamtlich zu den ökologischen Katastrophengebieten Polens. Die alten Industrien, die Oberschlesien einst reich machten, sind nun für Oberschlesiens neue traurige Rekorde verantwortlich.

Zahl der Erkrankten liegt über dem Durchschnitt

Die Säuglingssterblichkeit ist 50 Prozent höher als im polnischen Durchschnitt und mit 22 Todesfällen auf 10.000 Neugeborene in einigen Städten dreimal so hoch wie im Westen. Dreimal so viele Kinder leiden an Entwicklungsstörungen. Die Luft-Grenzwerte für Staub, Schwermetalle und Schwefel werden regelmäßig überschritten, bei Blei bis zu 50 mal im Jahr. Die Zahl der Atemwegserkrankungen ist höher als woanders und die Zahl der Krebskranken auch. Die Schwermetallbelastungen vergiften den Boden für die Landwirtschaft. Und die Zahl der Menschen mit Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüren liegt über dem Durchschnitt.

Sanieren heißt für die Oberschlesier neue, teure Techniken einführen. Da treffen sie sich mit den Akquisiteuren der großen Westkonzerne. Nicht nur deutsche, sondern auch finnische, dänische, französische und holländische Konzerne wollen verkaufen. Sie versuchen ebenso Anlagen loszuwerden, die im Westen nicht genehmigungsfähig wären, oder auf den Widerstand der Bevölkerung stoßen würden. Vom krassesten Beispiel berichtet Wodzislaw Slaski, Ökologe aus Katowice, den vom Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) nach Oberschlesien gebrachten Journalisten. Eine Kokerei in Zabrze soll neue und schadstoffärmere Öfen bekommen. Gleichzeitig sollte mit den Öfen die Produktion so gesteigert werden, daß die Nettoemissionen vor Ort die gleichen bleiben. Die Bochumer Thyssen-Tochter Still Otto und Krupp Koppers aus Essen sind zwar an den Aufträgen interessiert, seit anderthalb Jahren gibt es Gespräche, aber über das Frühstadium ist man noch nicht hinausgekommen.

In Oberschlesien gibt es auch Beispiele für kleine, wirkungsvolle Verbesserungen der Lebensbedingungen. In Katowice haben Stadt und Woiwodschaft inzwischen 50 Prozent der Kohleöfen durch Erdgas- Feuerung ersetzt — mit erheblichen Auswirkungen auf die Luft in der Stadt.

Noch aber herrscht vielfach Apathie. Das Gift hat die vier Millionen Menschen in Oberschlesien müde gemacht, schreckt sie nach Jahrzehnten nicht mehr. „Wohin sollen wir auch gehen, überall ist es giftig“, fragt sich Frau Krupa. Kaum dreißig Meter neben dem Phenolsee hat sie ihren Schrebergarten, fein säuberlich abgezäunt. Der Gestank nimmt fast den Atem; die Phenol- und Formaldehyddämpfe schädigen als giftige Überreste der Lackproduktion das Nervensystem, ihr Nachbar Henryk Schmidt zuckt die Achseln: „Man gewöhnt sich daran.“ Er ist hier geboren und arbeitet seit dreißig Jahren in der Fabrik. Besonders im Sommer, wenn es heiß und schwül ist, seien die Ausdünstungen viel schlimmer.

In wenigen Tagen will die Woiwodschaftsverwaltung immerhin zwischen den spielenden Kindern und dem See einen Zaun ziehen. Und in dreißig Jahren werden die Giftwerte sicher deutlich niedriger und die Sauerstoffwerte deutlich höher sein. Schließlich ist das Zeug dann verdunstet.