Wer mit dem Wisent tanzen will ...

...findet ihn in der „Grünen Lunge“ Polens/ Im Nordosten soll auf einem Areal so groß wie Niedersachsen eine ökologische Musterregion entstehen  ■ Von Hermann-Josef Tenhagen

Bialowieza (taz) — Hin und wieder tauchen schwarzbunte Kühe am Straßenrand auf, die angepflockt auf den Wiesen weiden. Weit und breit keine Zäune und keine Autos in diesem Teil Polens. Nur ein Reisebus mit deutschen Journalisten ist auf der zweispurigen Hauptstraße nach Bialystok unterwegs.

Die Kühe gehören den Kleinbauern. Zwei, drei oder fünf haben die meisten der 2,5 Millionen polnischen Landwirte, die vier Fünftel der landwirtschaftlichen Fläche bewirtschaften. Große Staatslatifundien gibt es in Polen nur noch wenige. Viele Menschen haben im entlegenen Nordosten ohnehin nie gelebt — und viele Junge zieht es nach wie vor in die Stadt. Die Bevölkerungsdichte liegt heute bei rund 50 Einwohnern pro Quadratkilometer, in der Bundesrepublik sind es 250.

Solche dünnbesiedelten Gebiete bieten die besten Voraussetzungen für eine gewagte, neue europäische Idee im Naturschutz. „Grüne Lunge Polens“ nennt Krystof Wolfram seinen Traum von einem großen zusammenhängenden ökologischen und sozialen Biotop in einem Land, das sonst nur durch Katastrophenmeldungen Schlagzeilen macht. Wolfram, ausgebildeter Forstwirt, koordiniert seit zwei Jahren für die polnische „Nationalstiftung für Umweltschutz“ das Projekt „Grüne Lunge Polens“.

Diese grüne Lunge, die an Belorußland und an den russischen Teil des früheren Ostpreußen grenzt, ist in der Tat eine einmalige europäische Naturlandschaft: durchzogen von den Nebenflüssen der Weichsel, die hier noch Täler in riesige bis 15 Kilometer breite Sumpflandschaften verwandeln, und gekrönt vom Nationalpark Bialowieza, der eines der urwaldähnlichsten Stücke Erde in unseren Breiten darstellt. 800 Jahre ist der Park als Jagdrevier weitgehend sich selbst überlassen worden. Polnische Könige, russische Zaren und später Hermann Göring haben hier Elche, Wisente und Wölfe gejagt. Seit 1921 ist der grenzüberschreitende Urwald in Polen Nationalpark.

300 Millionen Dollar für die „Grüne Lunge“

Wolfram kämpft seit 1981 für das Projekt „Grüne Lunge“, denn: „75 Prozent des Landes sind in einem ökologisch kritischen Zustand. Nur ein Bruchstück nördlich der Weichsel ist aus ökologischer Sicht in Ordnung.“ Die „Grüne Lunge“, so schwärmt er, könne ein Erholungsgebiet für die im übrigen Polen latent vergifteten Menschen werden. Heute müßten erholungsbedürftige Polinnen und Polen noch in die alten Kurorte im Süden fahren, wo die Dreckfahnen der Stahlhütte von Nova Huta wehen, höhnt der Naturschützer. Wie viel besser könnten die fünf nordwestlichen Woiwodschaften mit ihren 46.000 Quadratkilometern ruhiger und sauberer Landschaft — so groß wie Niedersachsen — Erholung bieten.

Öko-Tourismus und eine Landwirtschaft ohne Chemie sollen das Rückgrat des Projekts bilden. Heute sind 70 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Polen vergiftet, vor allem durch Schwermetalle aus den Industrieschloten. In der „Grünen Lunge“ könnten gesunde Lebensmittel angebaut werden. Nicht zuletzt, und das macht die europäische Dimension aus, ist das Gebiet, so Wolfram, durch seine Geschichte und die Unberührtheit seiner Natur prädestiniert als „internationale Genbank“. Wer weiß denn heute schon, ob nicht in 20 Jahren jetzt aussterbende Pflanzen für die Medizin ganz dringend gebraucht würden.

Doch, wie alles in Polen, drohen auch Wolframs Pläne, hinter denen inzwischen auch die fünf betroffenen Woiwodschaften mit ihren Bezirksregierungen stehen, am Geld zu scheitern. 300 Millionen Dollar werden gebraucht, um vernünftig anfangen zu können. Für Kläranlagen, die Entschwefelung der örtlichen Fernheizkraftwerke und die Renaturierung der Abschnitte des Weichselnebenflusses Narew, die in den fünfziger Jahren ausgebaggert wurden. Die Bauern müssen überzeugt werden — mit Druck, aber auch mit Geld. Mit ihnen veranstalten Wolfram und seine MitarbeiterInnen Reisen ins oberschlesische Industrierevier: „Damit die wissen, wie es dort aussieht.“

Eine zerstörte Brücke bewahrte die Idylle

Einen wichtigen Erfolg haben die Naturschützer in Warschau trotzdem schon erreicht. Polens Umweltminister Majciek Nowicki hat das Projekt „Grüne Lunge Polens“ in den Kanon der vier Projekte aufgenommen, die mit Geldern aus dem Öko-Konversions-Fonds finanziert werden sollen. Gespeist werden soll der Fonds aus einem weiteren Schuldennachlaß, den die polnische Regierung (bislang noch mit wenig Erfolg) ihren staatlichen Gläubigern abhandeln will. Das Geld soll, statt zurückgezahlt, in Zloty umgewandelt und für Öko- Projekte ausgegeben werden. Wolfram selbstbewußt: „Jede investierte Mark in diesem Gebiet bringt zehnmal mehr Nutzen, als in jedem anderen Gebiet Polens.“

Unterstützung hat Wolfram auch bei westlichen Umweltverbänden gefunden. Lutz Ribbe vom Bund für Umwelt und Naturschutz in Deutschland (BUND) rührt für das Projekt die Werbetrommel und hat den Bus mit deutschen Journalisten deshalb auch in diese Region geschickt.

Inzwischen zeichnen sich erste Ergebnisse der Bemühungen ab: Das Landschaftsschutzgebiet am längsten nichtkanalisierten Fluß Europas, dem Biebrza, soll ein Nationalpark werden und die Sümpfe als einzigartige Brutstätte für rund 250 Vogelarten erhalten werden. Der von der UNO ausgezeichnete Nationalpark Bialowieza wird erheblich erweitert. Vize-Direktor Czeslaw Okolow berichtet stolz von 50 Schreiadlerpaaren und den 280 freilaufenden Flachlandwisenten in und um den Park. Erst 1952 waren nach 30 Jahren Pause die ersten Wisente wieder freigelassen worden. Inzwischen müssen die Herden sogar wieder bejagt werden.

Die interessanteste Verbindung von neuentdeckter Ökologie und wiederbelebter Ökonomie präsentiert das Landschaftsschutzgebiet im Narewtal. Hier hat die polnische Zentralregierung in den fünfziger Jahren mit der Vertiefung der Narew begonnen. Dadurch sollte der torfige Boden besser zu bewirtschaften sein. Aber genau das Gegenteil ist eingetreten: Der Boden wurde vor allem auf den Höhen trockener und unfruchtbarer. Jetzt sind sogar viele Landwirte für eine Renaturierung. Andrej Grygoruk, der von den Problemen der früheren Entwässerungspolitik erzählt, bemüht sich, aus den 7.000 Hektar sumpfiges Flußtal im Landschaftsschutzgebiet einen weiteren streng geschützen Nationalpark zu machen.

Wie Okolow im Nationalpark kann auch Grygoruk die Idylle historisch begründen: Bis zum Rand des Tals verläuft die alte pappelgesäumte Handelsstraße von Bialystok nach Warschau. Die 330 Meter lange Brücke über den Narew haben die Sowjets zum Ende des Zweiten Weltkriegs gesprengt. Schon vierzig Jahre vorher, im Ersten Weltkrieg, hat die Brücke über das Sumpftal das gleiche Schicksal erlitten. „Und weil wir keinen Dritten Weltkrieg wollen, haben wir die Brücke nicht wieder aufgebaut.“