Die Möglichkeit der Erkenntnis

Ruth Berghaus inszeniert Brechts „Im Dickicht der Städte“  ■ Von Lore Kleinert

1971, kurz bevor sie die Leitung des Brecht-Theaters am Schiffbauerdamm in Ost-Berlin übernahm, inszenierte Ruth Berghaus Im Dickicht der Städte schon einmal. Damals zog sie das Drama vom Kampf zweier Männer im Moloch Chicago als ironisch-bunten Zirkus auf. Diese Aufführung, lesen wir, sei ein Signal gewesen, weil sie die dogmatisch erstarrte Brecht-Pflege eines Zeigefingertheaters hemmungslos überspitzt und veralbert habe. Das Signal wurde nicht vernommen. 1977 gab Ruth Berghaus die Brecht-Traditonsbühne auf und inszenierte fürderhin mehr im Westen als im Osten, ohne jedoch der DDR die Treue aufzukündigen. Als Wolf Biermann ausgebürgert wurde, stand auch ihr Name unter den Ergebenheitsadressen für die SED. Das war ihr noch vor einem Jahr nicht peinlich. Einig war sie sich mit dem Biermann vor seiner Ausbürgerung über die DDR als „besseren deutschen Staat“. Heute mag Biermann die Ossies nicht mehr, und Ruth Berghaus inszeniert nach 20 Jahren wieder Im Dickicht der Städte.

Der reiche Shlink, ein kahlköpfiger Mann mit gelbem Gesicht, will Gargas Meinung kaufen. Die Buchhandlung, in der Garga arbeitet, eine große, farbig ausgemalte Halle, wirkt wie eine aus einem Gemälde entsprungene Fabrik, als Amerikas Traum schon erstarrt genug war, um verklärt zu werden, mit einem Silberstreif am Horizont. Der Gazevorhang vor der Bühne taucht die Szenerie in ein unwirkliches Licht und versetzt sie in ein imaginäres Kino. Erst als er sich hebt, wird er als Grenze zwischen zwei Welten durchschaubar. Zuvor wurde der Buchladen im Handumdrehen und mit Gewalt ruiniert, und Gaga legt seinen überdimensionalen Schillerkragen ab. Doch das geschieht schon kaum mehr unter Druck: Gegenseitig legen er und Shlink sich die gleichen Anzüge, Westen und Mäntel an und sind sich nahe, trotz aller anderslautenden Bekundungen. Gewaltige Mengen weißer Papierbögen wirbeln auf die Bühne, und die Abgründe im Bühnenboden, in die man klettern oder auch stürzen kann, sind in der alten wie in der „neuen“ Welt die gleichen. Die romantisierte Fabrik mit den wertlosen Büchern wird nach dem Wegfall des Vorhangs zur riesigen Hochhausetage, ringsum von hohen, gazebespannten Fenstern umgeben, die als Ein- und Ausgänge dienen und den Blick auf eine leuchtende Wolkenkratzermetropole andeuten. Was ist eigentlich anders geworden? Geht es wirklich um den Kampf zweier Fremder um eine Meinung?

Shlink, der Herrscher der modernisierten Welt, gibt Garga alles, doch der kann nichts damit anfangen. Er droht den Handel zugrunde zu richten, und seine unverkäufliche Meinung ist wirr, unverständlich. Kalt und vollständig stilisiert läßt die Regisseurin die beiden Männer aneinander vorbeiagieren: der gelbe Shlink erscheint immer mehr als Untoter, als Vampir auf der Suche nach frischem Blut, ein trauriger Dracula, der sich — im Spiel — unterwirft, um sich zu erneuern. Garga als der jüngere „treibt Kindereien“, wie Brecht sie sich damals vorgestellt haben mag. Ruth Berghaus läßt ihn stottern und stolpern, mit großer Geste und hohlem Pathos; vor seiner Mutter sitzt er im hellen Pierrotanzug da und schaukelt vor und zurück wie ein hospitalisiertes Kind. Erst als es Ernst wird und der von ihm eingebrockte Betrug auffliegt, nimmt er die Konsequenzen auf sich. Er begreift, daß neue Möbel, Kleider und das Essen bezahlt werden müssen, und nachdem er seine Strafe abgesessen hat, gleitet er ganz allmählich an den Platz, den Shlink für ihn vorgesehen hatte. Zwar wird der Vampir tot am Haken aufgehängt, doch das geschah schon anderen vor ihm und erscheint hier so gar nicht als Akt der Lynchjustiz am Fremden; diese Aktion ist ebenso kalt und folgerichtig wie Gargas Perspektive, von Chicago nach New York zu wechseln. Oder von Frankfurt an der Oder nach Frankfurt am Main, von Hoyerswerda nach Köln, von Rostock nach Rom — die Bezüge beschränken sich auf Hinweise, daß Widersprüche beim Beschreiten unausweichlicher Wege nur durch Anpassung beseitigt werden können. Im extrem künstlichen Zelebrieren der Sprache setzt Ruth Berghaus dezente Akzente auf 40 Jahre Selbstbetrug, die graue Luft hier wie dort, die Haut des Menschen, die so oder so immer zu dünn oder zu dick ist. Zu den Frauen ist sie gnädiger, zu Gargas Schwester Marie, die Shlink liebte und sich aus dem Verkauf ihrer selbst in den Verkauf ihrer Arbeitskraft rettet, und zu Gargas Frau Jane, die als von Anfang an Besiegte daran festhält, daß ein Mensch anders sei als die beiden Männer glaubten. Beide haben größeren Spielraum für Zwischentöne und Gefühle, und sie nutzen ihn, um individueller und damit lernfähiger zu werden. In Gargas Mutter Mae führt die Regisseurin ein Konzentrat aus Brechtschen Proletarierheldinnen vor, wie man sie in der DDR zu Zeiten Helene Weigels besonders schätzte. Ihr gelingt das Kunststück, sie nicht etwa bloßzustellen, sondern ihre Größe und Trauer als gänzlich folgenlos zu demontieren. Hier wirft eine Regisseurin aus der DDR einen bitteren, endgültigen Blick auf verlorene Illusionen, und Brechts Text wird in der kunstvollen Übersteigerung Brechtscher Mittel zum irritierenen Medium dessen, was ihr bleibt: der Möglichkeit der Erkenntnis.

Ruth Berghaus nimmt allerdings dabei in Kauf, daß alle die, die sich für ihre Geschichte und die ihres Landes weniger interessieren, ausgeschlossen bleiben und aus schierer Unterkühlung kaum einen Zugang zum Stück mehr finden können. Niemals gibt der große goldene Kasten auf der Bühne seinen Inhalt preis, und am Ende hat er sich bis fast an die Rampe ausgedehnt und drängt die Reste des Familientisches der Sippe Garga fort. Wieder fliegen Papiere auf die jetzt leere Szenerie, doch jetzt sind sie schwarz, verbrannt, unlesbar. Ein letztes böses Zeichen für die Trauer der Ruth Berghaus um die Erfahrungen, die sie mit Macht und Ohnmacht in ihrem Land DDR machte, und vielleicht auch um die, die sie nicht machte.

Bertolt Brecht: Im Dickicht der Städte. Regie: Ruth Berghaus. Bühne: Erich Wonder. Mit Sven- Eric Bechgtolt, Martin Wuttke, Katharina Matz. Thalia Theater Hamburg. Nächste Aufführungen: 22. bis 24. und 27.10.