Das Gemurmel der Dinge

„Sprechende Gegenstände“ — eine Ausstellung im Basler Museum für Gestaltung  ■ Von Martin Halter

Gegenstände sprechen nicht. Selbst wenn japanische Elektrogeräte neuerdings auf menschlichen Zuruf reagieren oder ihre Funktion plärrend verraten, selbst wenn die nächste Computergeneration sich schon auf blecherne Dialoge einläßt: Die Objekte schweigen und plappern nur nach, was wir in sie hineinrufen. Aber sagen wir etwa nichts durch Blumen? Lassen wir nicht die Waffen sprechen? Schreit nicht der Teekessel, wenn man ihn auf der Herdplatte quält? Und speichert der Zahnarztstuhl etwa nicht die Schreie all seiner Patienten? Erzählt der Lippenstift im Badezimmer, der Flugschreiber eines abgestürzten Jets nicht eine dramatische Geschichte, schon bevor man ihn geöffnet und abgefragt hat? Gegenstände sprechen. Sie reden ununterbrochen, sie quasseln und flüstern, erinnern und versprechen, drohen und verraten. Sie sagen nichts als die Wahrheit. Nur Menschen können lügen.

Das Basler Museum für Gestaltung, immer für pfiffige Ausstellungen gut (zuletzt wurde die Tücke des Objekts und die Nudel als Inbegriff der „guten Form“ vorgeführt), zeigt in seiner jüngsten Schau ein paar hundert solcher „Sprechenden Gegenstände“. Natürlich sollen die Exponate ohne Legende für sich sprechen; der Katalog listet ohne jedes erklärende Wort nur das Inventar auf. Aber so gesprächig sind die Gegenstände nun auch wieder nicht, daß sie, an den Haaren herbeigezogen, ihr Geheimnis gleich ausplauderten. Zumal sie nicht nur für sich selbst sprechen, sondern sich auch gern zu dreisten Wortführern aufspreizen.

Wir sehen: „Süßholz (ungeraspelt)“, die lange Bank zum Ausruhen oder — endlich einmal in natura — die Haspel und lernen in einer Art kurzweiliger etymologischer Kulturgeschichte: Sprichwörter und Redensarten beziehen sich auf ein materielles Substrat, auf Gegenstände, deren sinnlich faßbare Gestalt wir oft vergessen haben wie aussterbende Wörter.

Fühlt man sich hier an Scharaden und Bilderrätsel erinnert, so darf man anderswo, von hinten an die Vitrinen heranpirschend, Teekesselchen spielen. Es gibt zweierlei Melonen oder Zylinder, solche und solche Sirenen. Das Ding an sich zeigt Metaphern und Metametaphern, und am Ende repräsentiert — nomen est omen — der Bismarck-Hering womöglich den Eisernen Kanzler. Das ist ein Hammer. Aber was für einer? Es gibt Auktions-, Vorschlag-, Reflex- und Zuckerhammer; der Hammer an sich ist wesenlos. Eine Krücke ist eine Krücke; darunter subsumiert die Ausstellung, wie im Intelligenztest, Abteilung „Ordnen Sie!“, Geburtszange, Fernbedienung, Sicherung, Wäscheklammer und Hüftprothese.

Man wird intellektuell gefordert im Museum für Gestaltung, und wenn man sich Blumenbergs Buch Die Lesbarkeit der Welt über einen Scanner ein- und (falls der Gegenstand nur funktionieren wolle) vorlesen läßt, rotieren die Gehirnschwurbel mächtig. Andererseits kann man sich auf ein stilles Zwiegespräch mit den redenden Gegenständen einlassen und einfach nur optisch zuhören. Dies ist ein Satz Augäpfel aus dem Medizinmuseum. Hier ein Blaumann, dort ein Blaustrumpf. Sekt oder Selters, Cola oder Pepsi. Nietzsches Schreibmaschine, eine kugelige Malling-Hansen, oder Schillers fast erblindeter Handspiegel. Tontaube, Schwanenhals oder Maus sind nicht immer lebendig. Das altertümliche Pferd in der Ecke hat Generationen von Turnschülern zuschanden geritten. Zankapfel, Schlagring, Hornschlitten: So lernt man die Welt neu buchstabieren.

Wie der Schmugglerschuh hat alles einen doppelten Boden. Ein Hut ist nur ein Hut, aber auch Symbol (Geßlerhut) oder Werkzeug (Bettlerhut). Das Loch im „Stürmer“ des eben entjungferten Burschenschaftlers hat eine Couleurdame der Freiburger Teutonia für ihren Bierzipfel gestopft. Waffen sprechen, auch wenn sie nicht eigens, wie eine Smith & Wesson, dem Betrachter ihre Mündung aufs Auge drücken. Ich bin ein Kris. Der Steigbügel (Rittertum!) hat die Welt revolutioniert. Ein Kugellager ist keine Waffe; die Pflugschar in der unteren Vitrine war vielleicht mal eine. Oder, in der Amulett- Abteilung: Sechzehnender — Nagelfetisch der Nkonde — Halsbandaffäre — Siegerlorbeer — Souvenir aus Venedig — Magnet („Ein Magnat ist ein Geldmagnet“): Setzen Sie die Reihe fort!

Aber wir tun Direktor Bruno Haldner unrecht. Pädagogisch-didaktisch hat er seine Ausstellung gewiß nicht gemeint; eher schon als Denkspiel-Parcours, ein Trimm- Dich-Pfad des Nominalismus. Daß sich die heterogene Welt der sprechenden Gegenstände nicht schlüssig unter Begriffe zwingen läßt, liegt in der Natur der Sache: Die nonverbale Kommunikation zwischen Subjekt und Objekt ist tückischer als linguistische Strukturalisten sich träumen lassen. Manchmal hat es deshalb nur zum visuellen Kalauer (Zigarillos der Marke „Sprachlos“, ein Kleiderbügel als des „Kaisers neue Kleider“) oder zu vagen metaphorischen Analogien gereicht. Coiffeur-, Schiedsrichter-, Gebär- und Beichtstuhl stehen nebeneinander; der „Bedenkstuhl“ aber, ein Folterwerkzeug aus dem Nachlaß des Scharfrichters Clausen, steht nebenan bei Zwinge und Joch. Und der innere Zusammenhang etwa zwischen Knabentorso, Mauerreliquie, zerbrochenem Krug und verbogenen Geldmünzen (9,40 Franken aus dem Nachlaß eines abgestürzten Piloten) erschließt sich so ohne weiteres auch nicht.

Das alles tut dem Ratevergnügen keinen Abbruch. In der Differenz von Zeichen und Bezeichnetem lauern Wiedererkennen und Mißverständnis gleichermaßen. Die Sprache des Fächers hat sich im 18.Jahrhundert vom Klimaschutz zur Koketterie emanzipiert. Sprechen Wünschelruten und Kristallkugeln? Der Gegenstand ist jedenfalls widerständig, er sperrt sich der abstrakt begreifenden Vernunft und läßt sich nicht immer im Maßstab 1:1 verdolmetschen. Der innerschweizerische Pantoffel spricht eine deutliche Sprache, die ägyptische Nackenstütze ein fremdes Idiom. Der als Brosche ans Revers geheftete Radio-Widerstand war das Erkennungszeichen der polnischen Solidarność.

Der Gegenstand spricht also zweifellos, aber anders als das „objet trouvé“ und anders als das Exponat. In einem Raum hat die Ausstellung ihre eigenen Voraussetzungen reflektiert. Auch Vitrinen, Podeste und Rahmen teilen nämlich etwas mit, indem sie die Kunstwerke vom Leben, das sie umbrandet, abgrenzen. Das „tee“, der kleinen Abschlagsockel, erzählt vom Golfball, der einst erhaben auf ihm ruhte; das Paradekissen hat den Abdruck der selbstvergessenen Krone so gut aufbewahrt wie Albers „Optischer Reizapparat“ von 1898 die letzte Assoziationsübung.

In einer Vitrine thront, deutlich sichtbar, das Nichts. Ob und wieviel ein Gegenstand von sich preisgibt, hängt keineswegs vom Reichtum seiner äußeren Bestimmungen ab. Ein Lautsprecher spricht nicht lauter als ein Höhrrohr. Nichts ist stummer als ein Stein, und doch predigt der Stein (in der Krone, im Brett) wie kaum ein zweites Naturwesen zum Steinerweichen: der Bezoar vom Stein der Weisen, der Leckstein von hungrigen Rehen, der „Handschmeichler“ aus Irland von den knetenden Fingern eines Fischers, der Bernstein von eingeschlossenen Insekten. Das unbeschriebene Blatt Papier umschreibt ganze Philosophien: Aristoteles denkt dabei an Vernunft, Albertus Magnus an die „tabula rasa“ der Seele. Der „Nürnberger Trichter“, eine Schwarte von 1650, zeugt vom Wahn, die Weisheit eingießen und mit Löffeln fressen zu können.

Selten sprechen die Gegenstände eine so klare Sprache wie der „Ehelöffel“ mit den zwei verdreht angeordneten Eßschaufeln. Zu reden beginnen die Dinge gewöhnlich erst, indem wir Bedeutungen, Phantasien und Ängste mit ihnen verknüpfen; je leerer die Projektionsflächen, desto besser. Hitchcocks surrealistischer „McGuffin“ ist in Basel durch einen schwarzen Koffer vertreten, das „Ding an sich“ durch einen Valéry- Text und Prousts Madeleine durch ein Biskuit-Ding. Ein roter Sessel — Sitzen verboten — ist Wittgensteins Sessel oder stellt ihn wenigstens vor: „Sollen wir sagen, daß wir mit diesem Wort keine Bedeutung verbinden, da wir nicht für alle Möglichkeiten seiner Anwendung mit Regeln ausgerüstet sind?“

Als Indiz tritt der Gegenstand in den Zeugenstand, als corpus delicti läßt er es sogar zum Schwur kommen. Beweisstück No.7106, ein Dietrich, hat „zur Verzeigung von Johann Kaufmann“ geführt. Daß die Gegenstände oft stummer, aber manchmal eben auch redseliger sind als uns lieb ist, macht Reiz und Grenze dieser Ausstellung aus. Denn im Grunde sprechen ja alle Objekte — vornehmlich zu dem, der ihnen willig Auge und Ohr leiht, brüllend zu dem, der nicht hören will. Der Stein des Anstoßes ist daher ein Wackerstein, dem sinnlich-gegenständlich zu widersprechen man niemand raten mag.

Was die Ausstellung an sprechenden Gegenständen aus dem Gemurmel der Dinge ausgewählt hat, ist insofern ebenso erhellend wie beliebig, witzig und schlecht unendlich. Die Seidenschnur, die orientalische Günstlinge zum Selbstmord aufforderte, der Knoten im Taschentusch und nicht zuletzt das Faß ohne Boden erinnern daran, daß der Versuch, den Gegenständen mehr als Namen und Funktion, etwa gar ein volles Geständnis abzupressen, nicht einmal unter der Folter gelingen kann.

Die Ausstellung dauert noch bis zum 10.November, der Katalog kostet 32 Franken.