Potentieller Kriegsherd Mazedonien

■ Im Streit um die mazedonische Identität melden gleich fünf Staaten Interesse an

Wer an die ewige Wiederkehr des Gleichen in der Geschichte glaubt, findet in der jüngsten Entwicklung auf dem Balkan reichlich Nahrung für historischen Pessimismus. Die „Mazedonische Frage“, die vier Jahrzehnte lang gut verkorkt in Titos Keller lagerte, ist mit dem Zusammenbruch Jugoslawiens aus der Flasche gefahren. Gibt es eine mazedonische Nation? Die bärtigen Geheimbündler der IMRO (Inner-Mazedonische Revolutionäre Organisation) wollten sie von den 90er Jahren des letzten bis in die 30er Jahre unseres Jahrhunderts herbeibomben und herbeischießen — vergeblich. Nach der Befreiung vom „Türkenjoch“ wurde Mazedonien dem Sieger des Zweiten Balkankriegs, Serbien, 1913 zugesprochen. Daran änderte sich auch nichts nach dem Ersten Weltkrieg. Bulgarien gehörte zu den Verlierern und die Mazedonier blieben im neugegründeten Staat der Serben, Kroaten und Slowenen, sprich dem unitarischen serbischen Königreich.

Unter dem Einfluß der Kommunistischen Internationale bejahte Tito im Zweiten Weltkrieg die Idee der mazedonischen Nation. Nach dem Sieg der Partisanenarmee wurde Mazedonien als Teilrepublik Mitglied der jugoslawischen Föderation. Aber dieses Gebiet umfaßte nur einen Teil dessen, worum es seit den Balkankriegen gegangen war. Zu Bulgarien gehörte das im Westen des Landes gelegene „Pirin“-Mazedonien. Ursprünglich akzeptierten die bulgarischen Kommunisten die Charakterisierung der dortigen Volksgruppe als Mazedonier. Während und kurz nach dem griechischen Bürgerkrieg favorisierten die Kommunisten der Region sogar den Zusammenschluß beider Teile und eines Stücks des von den kommunistischen Partisanen gehaltenen griechischen Mazedonien zu einem mazedonischen Staat. Aber daraus wurde nichts. Später rückten Bulgariens Realsozialisten von ihrer ursprünglichen Linie ab. Nicht nur die „Pirin“- Mazedonier, auch die in Jugoslawien galten jetzt als Westbulgaren. Es entbrannte ein heftiger Streit der Historiker und Philologen, der je nach politischer Konjunktur auf großer oder kleiner Flamme gekocht wurde.

Seit die Führung der Republik Mazedonien die vollständige Unabhängigkeit des Landes anstrebt, ist die Auseinandersetzung um die „Identität“ der Mazedonier auf ein brandgefährliches Terrain übergewechselt. Die serbischen Nationalisten, für die die Mazedonier stets „Süd-Serben“ waren, beanspruchen die Republik als Bestandteil eines künftigen großserbischen Staates und werden versuchen, diesen Anspruch mit Waffengewalt durchzusetzen. Dabei werden sie sich auf den serbischen Bevölkerungsteil Mazedoniens stützen können, der vor allem in der Nordregion der Republik siedelt. Im Gegenzug entwickelte sich in Bulgarien auf der Rechten eine großbulgarische Agitation, deren bisheriger Höhepunkt die mazedonische Versammlung vom Mai 1991 im bulgarischen Blagoevgrad war. Gegen diese Tendenz hat die Türkei unter Hinweis auf die 100.000 in Mazedonien lebenden Türken Front gemacht. Zwischen den serbischen und türkischen Minderheiten Mazedoniens entwickelt sich ein Einvernehmen, das sowohl gegen die mazedonische Unabhängigkeitsbewegung, als auch gegen Bulgarien gerichtet ist. Griechenland wiederum, das die schiere Existenz slawisch-stämmiger Mazedonier in Griechisch-Mazedonien bestreitet, fürchtet die Wiedergeburt der „großmazedonischen“ Idee. Die griechische Regierung ist außerdem besorgt, daß mit der Unabhängigkeit Mazedoniens der Transit nach Mitteleuropa gefährdet wird. Griechenland sähe Mazedonien am liebsten als Bestandteil eines weiterexistierenden Jugoslawien, und Premier Mizotakis hat erklärt, sein Land werde auf keinen Fall ein unabhängiges Mazedonien anerkennen.

Schließlich gibt es in Jugoslawisch-Mazedonien eine kompakte albanische Minderheit. Seit sie bei den Wahlen — durch die Anullierung ihrer Voten — um die Position als zweitstärkste Kraft der Republik gebracht wurde, gewinnt die „großalbanische“ Propaganda an Boden. Sie fordert die Vereinigung der überwiegend von Albanern bewohnten Teile Mazedoniens mit dem Mutterland. Mazedoniens Regierung hat in letzter Zeit wiederholt beteuert, sie strebe keinen Nationalstaat der Mazedonier, sondern einen „Staat der Bürger“ unabhängig von ethnischen Kriterien an. Sie wolle auch die Rechte der Minderheiten respektieren. Aber in dieser Regierung sitzen Vertreter einer Partei, die sich bis in den Namen hinein mit den großmazedonischen Träumen der IMRO identifiziert. Ob die diversen mazedonischen Wendesozialisten, die in der nationalen Frage einen vernünftigen Kurs verfolgen, den Einfluß der Neo-IMRO ausbalancieren werden, ist nach den Erfahrungen in anderen Ländern des Balkan reichlich ungewiß. Vor wenigen Wochen plante Serbiens Präsident Milosevic eine regionale Konferenz unter Einschluß Griechenlands, Bulgariens und Rumäniens zur „Lösung“ der Mazedonien-Frage. Unter dem Druck der EG, die ein serbisches Manöver zur Aufteilung Mazedoniens fürchtete, sagten die Griechen und Rumänen ab. Mit dieser Defensivstrategie ist nichts gewonnen. Die EG wäre gut beraten, umgehend den Krisenmechanismus der KSZE in Gang zu setzen, will sie nicht ein weiteres Mal zum ohnmächtigen Zuschauer eines Krieges degradiert werden. Christian Semler