Frankreichs Bauern bauen Barrikaden

Sie fühlen sich von Paris und Brüssel verlassen/ Klimakatastrophe, billiges Ostfleisch, drohender Subventionsabbau und die Landflucht machen den Landwirten zu schaffen/ Steuer- und Krediterleichterungen reichen nicht aus  ■ Aus Paris Thierry Chervel

Krankenschwestern, Sozialarbeiter, Lastwagenfahrer, Eisenbahner, sogar Künstler: so dicht drängen sich die Demonstrationen zur Zeit in Frankreich, so einhellig ist die Unzufriedenheit verschiedenster Berufsgruppen, so finster die soziale Stimmung, daß sich Präsident Mitterrand gestern morgen zu einer seiner seltenen Interventionen vor den Radiomikrophonen genötigt sah, um die Bürger zu Ruhe und Ordnung aufzurufen.

Besonders böse sind die Bauern, die ihre große Pariser Demonstration schon am 29. September hatten und seitdem in der Provinz mit lauter kleinen, aber wirkungsvollen Aktionen weiter protestieren. Zielscheiben der Aktionen sind Mitterrands Minister und andere Regierungsmitglieder, die sich kaum noch aufs Land trauen. Die Aktionen sind so militant, daß Mitterrand am Samstag Premierministerin Cresson, den Justiz- und den Innenminister in den Elysee-Palast holte, um mit ihnen zu beraten, wie die öffentliche Ordnung wieder herzustellen sei. Es gehe nicht an, so das Kommunique des Elysee-Palastes, daß eine kleine Minderheit von Bauern, die wahrscheinlich politisch gesteuert sei, die Autorität des Staates in Frage stelle. Wie es Mitterrand gestern noch einmal wiederholte: „Es ist nicht zu akzeptieren, daß diese Banden weiterhin zerstören, schlagen und brandschatzen.“

Noch am letzten Freitag hatten Bauern ein „Diner de l'Excellence“ des Tourismusministers in Moissac gestört, das für kulinarische Reisen in die Provinz werben sollte. Kostbares Fayenceporzellan und Kristall gingen zu Bruch. Ein paar Tage zuvor demonstrierten dreihundert Bauern in Carcassonne, bauten Barrikaden, „kontrollierten“ von Spanien kommende Laster und setzten vor der Präfektur, dem Vorposten der Pariser Zentralmacht, drei Schweine aus. Vor zwei Wochen „empfingen“ die Bauern Mitterrand in Montpellier, wo er einen Pressekongreß eröffnete, steckten Polizeiautos in Brand, vernichteten die Ladungen von drei italienischen und deutschen Lastern — zwanzig Tonnen Weintrauben. Am selben Tag raste auf dem Flugplatz von Charleville-Mézières ein Traktor auf ein gerade landendes Flugzeug zu — in dem Flugzeug saß Madame Bredin, Ministerin für Jugend und Sport, die vor Ort ihre Schulpolitik erörtern wollte. Dreiviertel Stunden lang verhandelte sie im Flugzeug mit den Bauern, aber rausgelassen wurde sie nicht. Sie mußte unverrichteter Dinge wieder abfliegen. Landwirtschaftsminister Louis Mermaz läßt sich derweil grundsätzlich von gepanzerten Polizeifahrzeugen begleiten. Die satirische Wochenzeitschrift 'Canard Enchainé‘ hat eine neue Wochenendkluft für französische Regierungsmitglieder entworfen: Gasmaske gegen Jauchegestank, Stahlhelm gegen Kartoffelregen, Schutzweste gegen Mistgabeln, Samthandschuh für die eiserne Hand. — Der französische Bauernverband FNSEA und der Verband der Landjugend CNJA sehen auch nach Mitterrands Machtwort keinen Anlaß, sich von den Ausschreitungen zu distanzieren. Ihre Vorsitzenden Raymond Lacombe und Philippe Mangin unterstützen die Proteste, indem sie den Landwirtschaftsminister unmöglich machen. Letzten Mittwoch teilten sie mit, daß sie den Kontakt zu dieser untergeordneten Charge vorerst abbrechen. Sie wollen nur noch mit Mitterrand selbst reden, der auf dieses Ansinnen aber bisher nicht reagiert hat. Mermaz hat ihnen inzwischen ein weiteres Dialogangebot für den 31. Oktober gemacht.

Mermaz hatte am Freitag vor den Abgesandten der Bauernverbände einen Katalog von Gegenvorschlägen zur EG-Agrarpolitik erläutern wollen, die er vorgestern in Brüssel unterbreitete. Darin lehnt er eine Senkung der Getreide-, Fleisch- und Milchpreise in dem von der EG vorgesehenen Umfang ab, außerdem fordert er größere Erleichterungen für die Kleinbauern. Mangin und Lacombe stehen diesen Plänen skeptisch gegenüber. Mermaz, so ihr Verdacht, versuche von hausgemachten Problemen abzulenken, indem er sie zur EG-Angelegenheit erkläre.

Es war in der Tat ein ganzes Bündel von Problemen, die die Bauern zur — friedlichen — Massendemonstration am 29. September in Paris führten, und keineswegs alle erklären sich aus der EG-Politik. Die Demonstration wandte sich nicht in erster Linie gegen Brüssel, sondern an die Pariser Stadtbewohner, die die französische Politik bestimmen und die die Landwirtschaft bestenfalls als ein durchs Spätlicht rosa gefärbtes Charolais-Rind auf sattgrüner Weide wahrnehmen, wenn sie freitags nachmittags im Schnellzug an die Côte d'Azur fahren. Fast ein Viertel der französischen Bevölkerung wohnt heute in der Pariser Region, 80 Prozent der Franzosen tummeln sich auf 20 Prozent des Territoriums, während der französische Staat pro Kopf der Bevölkerung 2.700 Francs in Paris und nur 700 auf dem Land ausgibt.

„Gegen die Entvölkerung“ war darum einer der Hauptslogans am 29. September. Die Demonstration hatte einer sehr allgemeinen, darum aber nicht weniger tief empfundenen Malaise Ausdruck gegeben. Noch hat Frankreich die größte Landwirtschaft der EG — 22 Prozent der europäischen Produktion —, und trotzdem stehen jetzt schon riesige Landstriche leer. Kein Wunder: Das Durchschnittseinkommen eines Bauern in der kargen Auvergne liegt bei etwa 12.000 Mark im Jahr, und die in den letzten Jahren viel beschworene Dezentralisierung hat bisher kaum Geld in diese Regionen gebracht. Der sozialistische Bürgermeister von Clermont-Ferrand hat letzte Woche aus diesem Grund demissioniert.

Aber nicht nur in den armen, sondern auch in den „mittelstarken“ Regionen Frankreichs, etwa im Nord- und Südwesten, sind inzwischen zahlreiche Bauernhöfe in ihrer Existenz gefährdet. Auf einschneidende EG-Maßnahmen wie die Senkung der Milchquoten im Jahr 1984 folgten katastrophale Trockenheiten in den letzten Sommern, die halbe Getreidernten verdörren ließen, und in diesem April ein Frosteinbruch, der die Obst- und Weinernten teilweise auf 20 Prozent des sonst Üblichen reduzierte. Die in solchen Fällen stets verprochenen „unbürokratischen Hilfen“ brauchen erfahrungsgemäß Monate oder Jahre, bis sie bei den Bauern ankommen.

Weniger durch Klimakatastrophen als durch den Mauerfall sahen sich die fleischproduzierenden Bauern Frankreichs bedroht. Die „Kontrollen“ ausländischer Laster richteten sich zum großen Teil gegen legale oder illegale Einfuhren von Fleisch aus der ehemaligen DDR, Polen und der Sowjetunion, wo für Devisen ganze Herden notgeschlachtet werden. Das Fleisch aus dem Osten ist zwar „minderwertig“ wie die französischen Bauernverbände betonen, aber es verdirbt die Preise. Seit der großen Demonstration kommt allerdings kaum noch Ostfleisch nach Frankreich: Die Regierung läßt es zwar nach den von der EG festgelegten Quoten einführen, aber nur um es dann gleich wieder in die notleidende UdSSR auszuführen.

In der letzten Woche stellte Landwirtschaftsminister Mermaz die Subventionen vor, mit denen er — im Rahmen der nationalen Landwirtschaftspolitik — die Bauernproteste zu beruhigen gedachte — Steuer- und Krediterleichterungen im Umfang von etwa zwei Milliarden Francs. Allzuviel hat er Finanzminister Bérégovoy, der das Haushaltsdefizit nicht über hundert Milliarden Francs steigen lassen will, nicht abhandeln können. Den Bauern reicht es nicht aus, wie die anhaltenden Demonstrationen zeigen. Selbst die Fraktion der regierenden Sozialistischen Partei drohte, der für heute anstehenden Verabschiedung des Landwirtschaftsbudgets im Parlament nicht zuzustimmen, falls nicht weitergehende Maßnahmen ergriffen werden.

Bérégovoy weigert sich bisher allerdings strikt, weitere Schulden aufzunehmen. Die Regierung sieht sich von allen Seiten bedrängt. Konzessionen an die Bauern könnten die Forderungen anderer Gruppierungen nach sich ziehen. Die Rechte kritisiert sowohl die Vernachlässigung der Landwirtschaftspolitik als auch das Haushaltsloch; Brüssel und die USA fordern eine Anpassung der europäischen Nahrungsmittelpreise an den Weltmarkt; und den Bauern verbleiben trotz des Frosteinbruchs im letzten April noch ein paar Tomaten, mit denen sie schmeißen können.