Der Einmarsch der neuen, westlichen Zeit

■ An der Humboldt-Uni hat die Übernahme durch die neu berufenen West-Professoren begonnen: Der arroganten Übernahme der Westler steht das alte Personal fassungslos gegenüber/ Veränderung wird wie Hausfriedensbruch wahrgenommen

Mitte. »Versuchen Sie es doch mal im Zimmer 3.012«, rät mir die Sekretärin des Institutsdirektors. Ansonsten wisse sie nicht, wie Herr Winkler zu erreichen ist. Irrläufe durch lange Flure. 3.012 — früher saßen dort die MLer, die Marxisten-Leninisten, danach die Sozialwissenschaftler. Jetzt sitzt dort eine kleine Gruppe von Leuten und beredet irgendetwas. »Herr Winkler? Klopfen Sie doch nebenan mal. Das hier gehört alles Herrn Winkler«, antwortet mit vielsagendem Lächeln einer aus der Gruppe. Nebenan — zwei fast leere Räume, für die die Malerfirma offensichtlich schon bestellt ist. Von der DDR-Geschichte sind in diesen Räumen nur noch ein paar auszurangierende Möbelstücke und der Kunststoff-Fußboden geblieben.

»In dieser Situation nach Berlin zurückzukehren, das ist für mich eine enorme Herausforderung«, erklärt der freundliche ältere Herr und ergänzt, daß er in ganz anderen Zeiten an der FU habilitiert wurde: als die Mauer West-Berlin noch fest umschloß. Heinrich August Winkler ist der erste neue Mann an der Humboldt-Universität, einer von vieren: drei Erziehungswissenschaftler und er als Historiker haben als erste ordentliche Professoren den Ruf an die Humboldt-Universität angenommen. Mit ihnen bricht die neue Zeit Unter den Linden an. Zwei Jahre lang hat die Berliner Traditionsuniversität um einen Weg gekämpft, sich von den Altlasten der DDR-Geschichte zu befreien, mit neuem Statut, Kommissionen und im Kampf gegen die Abwicklung. In diesen zwei Jahren waren die Humboldtianer noch unter sich. Die fremden Gesichter waren Gastdozenten oder externe Berater. Diese Zeit ist vorbei. Mit Winkler und Co. beginnt jetzt der Einmarsch der neuen, der West-Professoren. Wenn es nach Wissenschaftssenator Erhardt geht, werden sie schon bald das Geschehen dort bestimmen. So wird Heinrich August Winkler bald die Leitung seines Instituts übernehmen und fast im Alleingang Institutspolitik treiben können: Nach dem Hochschulerneuerungsgesetz sollen die Ex-DDR- Professoren aus den Unigremien verbannt werden. Winklers Ankunft am Institut für Geschichte hat alles andere als erwartungsfrohe Freuden ausgelöst. Bei einem Großteil des bisherigen Personals — vom Professor bis zur Sekretärin — herrscht Endzeitstimmung. Sie rechnen damit, daß sie aus der Universität herausgedrängt werden. »Wir sind an der Grenze unserer psychischen Belastbarkeit angelangt«, seufzt eine Dozentin.

Die Berufungspolitik des Senators spricht für sich. Er hat für das Historische Institut flächendeckend Stellen ausgeschrieben, als ob die Abwicklung niemals gerichtlich gestoppt worden wäre. So werden die Neuen (fast alle kommen aus dem Westen) auf Lehrstühle gesetzt, auf denen — noch — der alte DDR-Professor sitzt. Irgendeinen Grund, da sind sich die Betroffenen sicher, wird man schon finden, um sie zu kündigen. In den Stellenausschreibungen ist bezeichnenderweise vom »Neuaufbau« des Instituts die Rede.

Daß die Alten nicht nur auf Professorenebene damit rechnen können, für den Neuaufbau weichen zu müssen, exerziert Winkler gerade vor. Wie üblich hat er einen Assistenten mitgebracht, und er wird zwei auserwählte Assistenten in seinen Stab mithineinnehmen. Nicht einmal die Sekretärin, die ihm zusteht, eine Fremdsprachensekretärin, wird aus dem Humboldt-Personal stammen: Sie wird per Ausschreibung neu gesucht.

»Ich hätte gedacht, daß es eine Integration geben könnte. Aber er zieht einen Laden neben uns auf«, konstatiert der noch amtierende Institutsdirektor Prof. Ingo Materna. Winklers Auftreten am Institut hat bei vielen Dozenten einen Schock ausgelöst.

»Plötzlich geht die Tür auf, einige Herren nehmen unsere Zimmer in Augenschein, wechseln ein paar Worte und verschwinden wieder.« So hatte eine Sekretärin den neuen West-Professor erlebt, der sich bislang mit neuen Kollegen am Institut fast überhaupt nicht ins Benehmen gesetzt hat. (»Ich weiß doch gar nicht, wer von denen überhaupt da bleiben wird«, antwortet Professor Winkler darauf.)

Winkler hat nicht, wie es seine (Noch-)Kollegen wohl erwartet hätten, mit dem Institut beratschlagt, wo und wie man ihn unterbringen könnte, sondern seine Ansprüche gleich ganz oben, bei der Universitätsspitze, angemeldet. Anders hätte er kaum verfahren können: Denn seine Ansprüche an die Ausstattung seines Lehrstuhls übersteigen bei weitem das, was sich DDR-Professoren auch nur hätten erträumen können. Die geschichtswissenschaftlichen Professoren hocken an der HU mit ihren Assistenten in einem engen Zehn-Quadratmeter-Zimmer aufeinander. Winkler hingegen forderte und bekam — für die Alten am Institut sage und schreibe — einen Komplex von vier zusammenhängenden großzügigen Räumen zugewiesen. »Wenn alle neu berufenen Professoren solche Ansprüche stellen, dann muß die Humboldt-Uni dreimal so groß sein«, bemerkt eine Dozentin fassungslos.

»Was ich hier bekomme, entspricht in etwa dem Standard einer westdeutschen Ausstattung«, hält Winkler achselzuckend solchem Erstaunen entgegen. »Man hat mir zugesichert, daß ich hier nicht schlechter gestellt werde als bisher in Freiburg. Das wird bei jedem so sein.« Auch ein jüngerer (Ex-DDR-)Dozent meint: »Das steht ihm regulär zu.« Allerdings sei es eine Frage der Sensibilität: »Entweder man kommt mit Pioniergeist und will helfen, hier was aufzubauen — oder man will sich erst mal für den Rest des Lebens materiell ordentlich absichern.«

Ein Studentenvertreter macht sich schon Sorgen, daß sich die HU die teuren Professoren bald nicht mehr leisten kann. Mitleid hat er allerdings mit den verschreckten Ost-Dozenten seines Instituts für Geschichte nicht: »Jetzt endlich spüren auch unsere Hochschullehrer am eigenen Leib, daß es Veränderung gibt. Bis jetzt haben sie sich gut dagegen abschotten können. Die Räume, die Kollegen — die ganze Arbeitssphäre war ja noch unverändert. Und jetzt nehmen sie die Veränderung wahr wie einen Hausfriedensbruch.« Winfried Sträter