Finstere Stimmung

■ Mitterrands Machtwort und der gestrige Streik in Frankreich

Finstere Stimmung Mitterrands Machtwort und der gestrige Streik in Frankreich

Ist das ein richtiger Streik, wenn man noch einen Sitzplatz in der Metro findet? Kaum. Die gemäßigte, aber nicht sozialistennahe Gewerkschaft „Force Ouvriere“ hatte vor einem Monat, als sie den gestrigen „Generalstreik“ ausrief, einen Tag angekündigt, „an dem die Wirtschaft stillsteht“. Nur die KP-nahe Gewerkschaft CGT hat sich der FO rückhaltlos und in seltener Liaison angeschlossen. Die anderen Gewerkschaften hielten sich zurück. Kraftwerke konnten nur zu achtzig Prozent ihrer Kapazität gefahren werden, aber bei den TGVs lief alles wie immer. Auch in der Pariser Banlieue wurde der Zugverkehr zu zwei Dritteln aufrechterhalten — und nur wenn diese S-Bahnen und Nahverkehrszüge, die acht Millionen Einwohner versorgen, ausfallen, ist das Chaos komplett. Aber die Metropole ist an Streiks gewöhnt. Gestern schlossen die Büros eine Stunde früher, damit die Angestellten den Wechselfällen des Transportwesens ruhig ins Auge sehen konnten.

Vielleicht kam der Streik zwei Tage zu spät. Mitterrand hatte den Zeitpunkt für sein Machtwort vor den Mikrophonen von Radio France Inter klug gewählt. Kaum hatte er die Grande Nation am Dienstag an ihre „universale Mission“ erinnert, da schien sich die Lage schon zu entspannen. Die patriarchale Psychologie des französischen Präsidialsystems tat ihre segensreiche Wirkung. Die Bauernproteste ließen nach, Bauernfunktionär Lacombe tunkte gleich nach der Sendung mit Mitterrand Croissants in den Milchkaffee, um danach zu verkünden, daß Mitterrands Vorschläge zur Agrarpolitik „in die richtige Richtung“ gingen. Die seit Wochen demonstrierenden Krankenschwestern zeigten sich plötzlich kompromißwillig, die Beamten begnügten sich mit einer kleinen Gehaltserhöhung. Und die Regierung kam ihnen entgegen. Der „strenge“ Finanzminister erhöhte das Haushaltsdefizit für 1992 um ein bescheidenes Drittel — hier ein bißchen für die Beamten, dort ein bißchen für die Bauern und Krankenschwestern.

Es wäre allerdings zu früh, nun das Ende der „Sinistrose“ zu konstatieren, als die die hiesigen Medien die grassierende finstere soziale und politische Stimmung diagnostizierten. Die Wirkung des gestrigen Streiks auf kommende Konflikte bleibt abzuwarten. Die Arbeitslosenquote wird bald zehn Prozent betragen. Die Linke ist in der Defensive und kann sich nur damit trösten, daß es der Rechten auch nicht besser geht. Allein Le Pen ist in der Offensive und in den Meinungsfragen so populär wie seit 1984 nicht mehr. Mitterrands Autorität schien in den letzten Wochen angegriffen. Die satirische Wochenzeitschrift 'Le Canard Enchainé‘ nannte ihn einst grundsätzlich „Dieu“. Längst ist sie zu Mitterrands vorpräsidialen Spitznamen zurückgekehrt, zu „Tonton“ und „Mimi“. Thierry Chervel, Paris