Die Zeit der Einheit ist vorbei

■ Als letztes Land des ehemals realsozialistischen Ostmitteleuropa führt Polen am Sonntag freie Wahlen durch. Von der Bedeutung dieser historischen Entscheidung ist bisher im Lande nur wenig zu spüren.

Die Zeit der Einheit ist vorbei Als letztes Land des ehemals realsozialistischen Ostmitteleuropa führt Polen am Sonntag freie Wahlen durch. Von der Bedeutung dieser historischen Entscheidung ist bisher im Lande nur wenig zu spüren.

Endlich ist es auch in Polen soweit. Mehr als zwei Jahre nach dem Ende der „Herrschaft einer Partei“ finden am Sonntag die ersten freien und geheimen Parlamentswahlen der Nachkriegszeit statt. Die Bevölkerung des 35 Millionen Einwohner zählenden Landes ist aufgerufen, 460 Abgeordnete zum Sejm, dem polnischen Unterhaus, und 100 Senatoren zu wählen. Doch die Bedeutung der historischen Entscheidung ist in Polen bisher nicht zu spüren. Die Wahlkampfveranstaltungen sind meist nur von einigen Dutzend Interessenten besucht, Meinungsumfragen nach will die Hälfte der Bevölkerung den Wahlurnen fernbleiben.

Gründe für die fehlende Begeisterung gibt es viele. Nicht zuletzt liegen sie im Wahlsystem selbst. Ein kompliziertes Proporzsystem führt zur Zersplitterung, über 60 Parteien bewerben sich um die Sitze. Den meisten von ihnen wird allerdings kein größerer Erfolg vergönnt sein. Mit rund 20 Prozent könnte die Demokratische Union zur stärksten Partei, der frühere Premier Mazowiecki somit erneut Ministerpräsident werden. Als aussichtsreicher Kandidat für dieses Amt gilt aber auch sein Parteifreund Jacek Kuron. Als einer der ehemaligen Köpfe der Solidarność ist er heute der wohl populärste Politiker des Landes.

Größere Fraktionen im künftigen Parlament zu stellen, trauen Beobachter daneben der Gewerkschaft Solidarność, der Staatspräsident Walesa nahestehenden Zentrumsvereinigung und dem Liberaldemokratischen Kongreß des bisherigen Premiers Jan Krzysztof Bielecki zu. Die Sozialdemokraten, die die Nachfolge der 1990 aufgelösten PVAP angetreten haben, können auf ca. zehn Prozent der Stimmen rechnen.

Doch fast ein Viertel der zur Wahl Entschlossenen gab bei den letzten Umfragen an, daß sie noch nicht wüßten, wem sie ihre Stimme geben werden. Zu ähnlich sind sich die Wahlprogramme, zu unklar ist, wie die Parteien die immer größer werdenden wirtschaftlichen Probleme Polens lösen wollen. Die radikale Sparpolitik von Finanzminister Balcerowicz hat zwar bewirkt, daß die Inflationsrate von mehr als 1.000 auf „bloße“ 50-60 Prozent gefallen ist. Aber: Da die Löhne langsamer als die Preise stiegen, kann sich die mehr und mehr aus dem Westen importierten Waren kaum einer leisten. Rapide gesunken ist auch die Industrieproduktion. Die Folgen: eine Arbeitslosigkeit von mehr als zehn Prozent und ein Loch von fast vier Milliarden Mark im Staatshaushalt.

Unter dem Eindruck dieser Wirtschaftskrise haben nun fast alle Parteien im Wahlkampf ihr Herz für Polens marode Staatsbetriebe entdeckt und versprechen mehr staatliche Intervention in der Wirtschaft.

Unzufriedenheit gibt es aber auch darüber, daß die Polen, die — so Lech Walesa — „bei der Überwindung des sozialistischen Systems die ersten waren“, nun als letzte freie Wahlen durchführen. Polens bisheriges Parlament war zustande gekommen nach den Vereinbarungen des runden Tisches von 1989, die den Kommunisten und ihren Bündnispartnern Demokratische Partei und Vereinigte Bauernpartei eine Mehrheit von 65 Prozent im Sejm garantierten. Nur die Wahlen im Rahmen der restlichen 35 Prozent und die Wahlen zum Senat waren frei — Solidarność, die damals als einheitliche Bewegung antrat, gewann sie fast zu 100 Prozent. Zwei Jahre danach gehören die Zeiten der Einheit der Vergangenheit an — die Regierungsbildung wird nicht einfach sein. KB/her