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Heißer Herbst in Athen

■ Verletzte und Festnahmen bei Räumung des Polytechnikums/ Universität holte Polizei/ Proteste gegen Bildungswesen waren Ausgangspunkt

Athen/ Berlin (taz) — Knapp 18 Jahre nach dem Aufstand der Athener Studenten gegen das Obristenregime war gestern wieder Polizei auf dem Gelände des Polytechnikums: Anti-Aufruhr-Einheiten räumten die Universität von rund 100 Besetzern, die sich dort über Nacht verschanzt hatten. Zuvor hatte die Universität angeblich Verhandlungen mit den Besetzern versucht. Gestern morgen, als einzelne Gebäudeteile in Flammen standen und mehrere Labors demoliert waren, riefen Rektorat und Vertreter verschiedener Studentenverbände die Polizei. Bei der Räumung kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Besetzern, die sich selbst als Anarchisten bezeichnen, und der Polizei. Mindestens zwei Personen wurden verletzt und 25 weitere festgenommen.

Begonnen hatte die Besetzung am Donnerstag abend nach einer Kundgebung von mehreren Tausend Mittelschülern gegen die geplante Reform des Bildungssystems. Zwischen einer kleinen Gruppe von Demonstranten und der Polizei kam es dabei zu Auseinandersetzungen, die sich schnell zu Straßenschlachten entwickelten. Autobusse, Schaufensterscheiben und der Übertragungswagen einer regierungsnahen Fernsehanstalt gingen dabei zu Bruch. Als die Polizei Tränengas einsetzte, flüchteten die Demonstranten in das Polytechnikum.

Der Polizeieinsatz in dem Gebäude hat Symbolwert, denn vom Athener Polytechnikum war bei dem inzwischen legendären Studentenaufstand vom 17. November 1973 der entscheidende Widerstand gegen das Regime von Papadopoulos ausgegangen. Seit dem Ende der Militärdiktatur waren Polizeieinsätze auf dem selbstverwalteten Gelände tabu. Auf dieses „Universitäts-Asyl“ beriefen sich auch dieses Mal wieder die Besetzer.

Nach der gewaltsamen Räumung wurden gestern in Athen Stimmen laut, die sich um die Autonomie der Universität sorgen. Andererseits kritisierten sowohl die konservative Regierung als auch die Opposition die „Anarchisten“, die diesmal versucht hätten, die Schülerbewegung für ihre Zwecke zu funktionalisieren.

Mehrere Schülergruppen planten gestern Protestdemonstrationen gegen den Polizeieinsatz. Sie meinen, die Universitätsleitung hätte weiter verhandeln müssen. Eigentlicher Anlaß für die neue Schülerbewegung, die sich derzeit in Griechenland formiert, ist jedoch die Erziehungspolitik der konservativen Regierung. Auch die chronisch unterbezahlten Lehrer sind Teil dieser Protestbewegung. Beide Gruppen fordern eine Aufstockung des Bildungsetats um 10 Prozent. Seit Wochen sind mehrere Dutzend Schulen in ganz Griechenland, besonders aber Athen besetzt. Zahlreiche Demonstrationen — allein zwei waren es in dieser Woche in Athen — machen auf die Misere der Bildungspolitik aufmerksam, der es an Ideen vor allem aber an Geld mangelt.

Wie jede Partei, die im Nachkriegsgriechenland die Regierungsgeschäfte übernahm, will auch die Nea Demokratie dem Erziehungswesen ihren Stempel aufdrücken. In diesem Fall sollen Reformen der sozialdemokratischen Papandreou- Regierung von Anfang der 80er Jahre zurückgenommen werden. Damals waren in der „Gymnasium“ genannten Mittelstufe die Prüfungen abgeschafft worden. Statt dessen finden in Griechenland alljährlich schwere Auswahlprüfungen für die Universität statt, bei denen zwei Drittel der Bewerber (rund 100.000 Personen) durchfallen. Die prüfungslose Zeit an den Mittelschulen soll jetzt enden. Denn, so ein Lehrsatz von Erziehungsminister Georgios Souflias: „Es kann nicht sein, daß ein dreizehnjähriges Kind allein darüber entscheidet, wie es in der Schule geprüft wird.“

Mit der Reform des Schul- und später auch des Universitätswesens peilt die konservative Regierung eine Angleichung an den Standard in den übrigen EG-Ländern an. Wesentliches Handicap dabei ist jedoch die Sparpolitik, die auch die EG-Kommission der griechischen Regierung abverlangt hat. Überall im Staate Griechenland muß gespart werden. Auch für das an sich reformbedürftige Erziehungswesen steht keine einzige zusätzliche Drachme zur Verfügung. dora

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