Es brennt in der Lichtenberger Pfarrstraße

In einer Straße im Ostberliner Stadtbezirk Lichtenberg häufen sich Konflikte zwischen Skinheads und Autonomen/ Der Sozialdiakon Michael Heinisch betreut ein Projekt, das durch die Auseinandersetzungen in seiner Existenz bedroht ist  ■ Aus Berlin André Beck

Die falsche Rune am verschmierten S-Bahnfenster hängt an einem gelben Galgen. Leute lesen dabei 'Berliner Zeitung‘ oder 'Bild‘. Aussteigen an der Station Nöldnerplatz. An der Unterführung steht ein Ausländer. Er steckt in strahlend weißer Arbeitskluft und verkauft den 'Berliner Kurier‘. Das Geschäft scheint zu florieren. Er ist freundlich, Passanten greifen zu. Daneben wohlfeil billiges Gemüse auf improvisierten Verkaufsständen. Ein ganz normaler verregneter Tag in der Enklave im Ost-Berliner Stadtbezirk Lichtenberg, die zwischen Nöldnerplatz im Osten, Rummelsburg im Süden, Ostkreuz im Westen den Betonsilos der Frankfurter-Allee-Süd im Norden eingegrenzt liegt. Sie gleicht einer Insel — einer Zwingburg — deren Limes die Wälle von Eisenbahn- und S-Bahnlinien sind.

Den Weg in die Pfarrstraße weisen entweder Ortskundige oder die auffallend häufig wiederkehrenden Varianten von durchgestrichenen oder verfremdeten Hakenkreuzen. Schmiereien auf frischem Putz und neuer (West)-Farbe: „Nazis raus — (durchgestrichen) rein“, „Der Kampf gegen — (durchgestrichen) für Nazis ist der Kampf gegen den Staat“, „AusländerInnen (durchgestrichen) Nazis bleiben — Nazis (durchgestrichen) Ausländer vertreiben“ und so weiter. Die sich so mit Graffiti und Farbe verbal an der Häuserfront durchstreichenden und überpinselnden und sich nicht ausstehen könnenden Lager sind unschwer im Straßenbild durch Haartracht, (oder keine) Bomberjacken, DocMartens, Leder oder eben nur bunt zu übersehen.

Die Türrschmidstraße mündet in die Pfarrstraße. Gesäumt von zwei bis dreistöckigen Häusern aus der Gründerzeit, kann sich ein zufällig (wer verirrt sich schon nicht zufällig hierher) vorbeischauender Ahnungsloser nicht vorstellen, daß es in diesem verschlafenen Kiez so etwas wie Zoff oder gar eine Straßenschlacht geben könnte. Daß im letzten Drittel der Pfarrstraße hinter der Kaskelstraße so etwas stattgefunden haben muß, darauf deuten die noch nicht beseitigten Spuren von zerbrochenem Glas, zerstreute Reste von Ziegelsteinen und Farbe hin. Die Häuser, oder was davon noch übrig ist, gleichen wehrhaften Trutzburgen. Metallene vergitterte Warencontainer oder einfache Bretterverschläge vor zersprungenen Fensterscheiben sollen die Bewohner vor unliebsamem Besuch oder Steinwürfen schützen. Die meisten Türen sind mit dicken Balken und Schlössern verrammelt. Wer Einlaß begehrt, muß pfeifen oder rufen. Da, wo eine Klingel war, glänzen die bloßen Enden der Drähte. Schon vor dem Mauerfall war dieser Straßenzug ohne Straßenbeleuchtung und eine anarchische Insel im libertären Sinne für schlecht betuchte Wohnungssuchende, Stadtstreicher, Ausgegrenzte und Obdachlose. Nach 1989 wurde professionell besetzt.

In unmittelbarer Nachbarschaft zu den Hausbesetzern, einer Szenemischung aus Ost- und West-Berlinern und Hinzugezogenen aus der alten und neuen Bundesrepublik, hat Michael Heinisch, Sozialdiakon der Berliner Erlöser-Gemeinde noch zu DDR-Zeiten dem Magistrat ein Haus abgerungen, das er für und mit Punks, Skins, Hools und was sonst noch der real existierende Sozialismus in den Betonwüsten der Frankfurter Allee-Süd an outcasts produziert hatte, herrichten will. Heinischs Projekt, mit vermeintlichen und echten rechtsextremen Jugendlichen und auch mit Linken zu arbeiten, stößt bei seinen autonomen Nachbarn auf Unverständnis und Gewalt — die wohl gegenseitig bedingt ist.

Was der Sozialdiakon, einer der wenigen, die in der DDR ausgebildet wurden und der als unbequem von Staats wegen verprügelt, mit der Stasi im Nacken selbst in den Knast wanderte, erreichen will, ist, den früher wie heute Benachteiligten eine Identität zu geben. Heinisch sieht die Gefahr des Rechtsextremismus, meint aber, das Hauptproblem liegt in der Orientierungslosigkeit. „Diese Jugendlichen haben nichts zu verlieren. Sie haben sich gegen die allgegenwärtige Heuchelei gestellt, sie haben dem Staat die Stirn geboten, egal, ob er sie einsperrte oder totschlug. Die Jugendlichen leben nur ehrlich das Leben, das ihnen die Gesellschaft vorlebt. Ich glaube, das ist die Wahrheit, die jeder mittlerweile wissen muß.“ Am Dienstag brannte es in Heinischs Haus. Brandstiftung. Am Mittwoch knallte es, Autonome und Skins gingen mit Schlaggerät und Molotowcocktails aufeinander los, die Polizei nahm sechs Jugendliche fest. Die 20 Leute von Heinischs Projekt sind „vorerst beurlaubt“. Das ist nicht das Ende, meint Heinisch. Wie es weitergeht, kann er noch nicht sagen.