: ZWISCHEN DEN RILLEN
■ Zungenküsse und Speerspitzen
Prinz‘ wußte es wieder mal zuallererst: Die „zur Zeit härteste Band Deutschlands“ kommt aus Berlin. Sie hört auf den Namen Mutter und macht eigenen Angaben zufolge „Musik, vor der die computergesteuerten Moderatoren des Rundfunks Alpträume bekommen“, sprich: Pop-Noise der wüsteren bis wüstesten Art — du darfst es auch Art Bru(i)t nennen, obwohl die Combo aus dem Umfeld der Künstlergruppe „Tödliche Doris“, die schon mit dem Erstling Ich Schäme Mich Gedanken Zu Haben Die Andere Menschen In Ihrer Würde Verletzen einen Achtungserfolg erzielen konnte, sich sicherlich gegen solche kunsthistorische Etikettierungen verwahren würde.
Doch wie, wenn nicht kunstvoll, ist die Art und Weise zu nennen, in der Sänger Max Müller immer wieder jedem Ansatz von Melodieführung und Groove entkommt, akustisch Asche auf sein Haupt streut, die Töne wie auf dem Boden liegend und sich wälzend in die Klangkulisse hineinächzt? Offenbar ein hartes Stück Arbeit, zu dessen vollständigem Gelingen die Rest-Mutter mit ihrem kongenial verstolperten Backing freilich auch ihr Scherflein beiträgt. Diese Band macht Tabula rasa mit allem, was auch nur entfernt nach Gradlinigkeit und Marschrhythmus klingt. Textlich geht es um Masturbation (Komm, der Titelsong), Identitätsproblematik (Verschwommen) und Tuberkulose (Ich bin so klein) sowie um Max Müllers Sicht der historischen Schuld Deutschlands (Müller: „Ich opfre mich für alles, was in meinem Namen geschah!“, ein Bekenntnis, dessen genauerer Aussagewert sich allerdings aufgrund der innigen Symbiose von Gesang und Instrumentalparts dem Verständnis entzieht).
Etwas deutlicher wird die Diktion in einer Art Novellenzyklus, der nach dem sechsten Stück einsetzt und zu dem die Musik gleichsam die Rahmenhandlung bildet. 18 Personen des musikalischen oder sonstwie subkulturellen Lebens erzählen Geschichten unterhaltsamen, bedenkenswerten, oft auch makabren Inhalts, meist im Stil von „Wie ich einmal...“ Einer gewissen Gundula Schmitz und ihrem Freund ist z.B. nachts einmal ein phosphorfarbenes Hakenkreuz an der Decke erschienen und war erst am Morgen verschwunden; Mario Mentrup, der „auch inner Band spielt, aber das spielt jetzt keine Rolle hier“, weiß von einer schicksalhaften Ähnlichkeit zu Max Müller zu berichten. David Lynch (ja, der) philosophiert über Ameisen; Francoise Cactus wiederum, Musikerin und taz- Layouterin, hat ihrem Bruder „ein Zungöhnkuß“ gegeben und mußte sich dafür wochenlang „Nuttöh“ schimpfen lassen, während ein gewisser Karl-Heinz Riedle (nicht identisch mit dem gleichnamigen Fußballstar) mit einer anderen, irgendwie auch prickelnden erotischen Schnurre vertreten ist. Am schönsten und lehrreichsten aber wohl das Jugenderlebnis von Reinhard Wilhelmi: In zügigem Tempo wird berichtet, wie er, Wilhelmi, in einem Schulaufsatz zum Thema „Wie ich mich einmal verlaufen habe“ behauptete, sich noch nie in seinem Leben verlaufen zu haben. Im Sauerland, wo er herkomme, sei das nächste Dorf nämlich nie weit. Resultat: eine Sechs. „Seither bin ich überzeugt, daß Dummheit und Angst mit guten Zensuren belohnt werden.“
Nicht jedes der versammelten Anekdötchen stellt sich derart beherzt in den Dienst aufklärerischer Moral. Meist verläppert die Pointe in gewollten Banalisierungen, die dem Gedröhn der öffentlichen Rede die Kleinkunst des So-ist-das- Leben entgegensetzen. Ein bißchen Geräuschmusik und kichernde Hysterie des Erzählens — zu größeren Triumphen ist unsere von Wohnungsnot und Bierkonsum gebeutelte urbane Avantgarde offenbar momentan nicht in der Lage.
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Daß auch Die Vision, eine Band mit Punk-Roots aus Ost-Berlin, einmal „Anti-Musik“ gemacht haben soll, mag man beim Hören ihrer jüngsten LP gar nicht glauben. Die Einschätzung stammt allerdings auch nur von der staatlichen Einstufungskommission der Ex-DDR, und die war bekanntlich großzügig in der Vergabe solcher Ehrentitel. Jetzt, wo mit Kultur-Stasi und Mauer auch der Renitenz-Bonus wegfällt, entpuppt sich das staatsfeindliche Treiben zunehmend als biedere New-Wave-Variante der frühachtziger Bauart, an Joy Division und Cure geschult, aber noch nicht einmal so aufregend wie Robert Smiths rot geschminkter Lippenmund (und das will was heißen). Ein Auslaufmodell eben.
Dabei wollten die vier Jungs um Sänger Uwe Niels von Geyer doch gerade alles richtig machen! Fascination ist noch satter, noch melodiöser und nach rein handwerklichen Gesichtspunkten noch gelungener, kurz: noch entschiedener auf vermeintlichen West-Standard getrimmt als der Vorgänger Torture. Offenbar wollte man sowohl den Ruf als Speerspitze des Ost-Wave verteidigen als auch nationale Marktfähigkeit unter Beweis stellen. Doch gerade diese Flucht nach vorn hört man der Musik eben auch an. Ob es die Keyboardfiguren sind, die die kathedralische Gesamtatmosphäre unterstreichen, die röhrenden Gitarren, die kleinen Gimmicks (wie das pinkfloydeske Staub in der Stille- Intro) oder Geyers Superslang-Englisch — jedes Sound-Detail wirkt wie eine kulturelle Errungenschaft, aufpoliert und eingebaut wie ein lang ersehntes Ersatzteil. Vorurteil hin, DDR-Klischees her: das alles hört sich im günstigsten Fall rührend an, so rührend wie das Cover, das einen Sonnenuntergang über dem Meer zeigt, oder das melancholische Motto auf der Rückseite: „All these moments will be lost as tears in the rain.“
Mutter: „Komm, What's so funny about...“
Die Vision: „Fascination“, Vulture/RTD
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