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: Jelzins Zeichen

■ Die deutsche Wolga-Republik steht gegen den Wahn ethnischer Politik in Europa

Während in Serbien und Kroatien die Stichwörter „Umsiedlung“ und „ethnische Bereinigung“ in Mode kommen, während der neue Nationalstaat Ukraine keine größeren Sorgen hat als die Aufstellung eines 420.000-Mann-Heeres, während die Litauer ihre polnische Minderheit malträtieren und gleichzeitig über litauische Nazi-Kollaborateure und Juden- Mörder den Mantel brüderlichster Nächstenliebe breiten — während dies alles geschieht, tut Boris Jelzin etwas ausgesprochen Vernünftiges: Die russische Regierung gibt den fast zwei Millionen Rußlanddeutschen ihre autonome Wolga-Republik zurück, sie garantiert ihre kulturelle Eigenständigkeit, sie korrigiert vergangenes Unrecht, soweit sich Unrecht überhaupt korrigieren läßt.

Es ist falsch, darin einen Anbiederungsversuch an die Deutschen und ihre Milliarden zu sehen. Die Entscheidung hat grundsätzliche Bedeutung. Sie ist einzigartig und — hoffentlich — richtungsweisend. Sie stellt sich bewußt gegen eine Welle neonationalistischer Politik, gegen den neuen Wahn „ethnischer Reinheit“ — Prinzipien, in die die osteuropäischen Unabhängigkeitsbewegungen in einer Weise abgekippt sind, daß sie den Ehrentitel „Freiheitsbewegung“ täglich neu verspielen.

Zur Erinnerung: Die Pariser Friedensverträge von 1919 und 1920 garantierten den nationalen Minderheiten in Europa weitgehende Rechte. Ebenso die Leninsche Nationalitätenpolitik. Der erste Sündenfall fand 1923 in Lausanne statt, der zweite 1927 in Moskau. Die Vertreter Frankreichs und Großbritanniens befürworteten bei der Lausanner Konferenz — übrigens gegen das Votum des Washingtoner Beobachters, aber mit indirekter Zustimmung des Völkerbundes — den sogenannten Bevölkerungsaustausch zwischen der Türkei und Griechenland, die im wesentlichen zu Lasten des Heimat- und Lebensrechts der kleinasiatischen Griechen ging. Die beteiligten Mächte rechtfertigten die Politik der Vertreibung und der nationalistischen Unduldsamkeit und machten sie zum praktizierten Völker(un)recht. In den dreißiger und vierziger Jahren wurden dann unter deutscher und sowjetischer Federführung Abermillionen Menschen zwangsweise umgesiedelt: Ukrainer, Balten, Deutsche und Südtiroler, Rumänen, Serben, Franzosen, Ungarn, Bulgaren. Daneben wurden innerhalb der Sowjetunion unter Stalin ganze Völker zerstört und deportiert, teils aus Rache, teils im Zeichen einer barbarischen Industrie- und Landwirtschaftspolitik, teils zur Schaffung des Russisch sprechenden, künstlichen Homo sowjeticus. Nach dem Schock des Zweiten Weltkrieges begannen internationale Konferenzen und schließlich auch Chrutschtschow 1956, sich mit diesen aberwitzigen Umsiedlungsverbrechen, mit den Millionen Toten, auseinanderzusetzen.

Mit dem Ende der 1945 geschaffenen Ordnung treten nicht, wie andauernd behauptet wird, die Probleme zu Tage, die die Friedensverträge von 1919/20 hinterlassen haben sollen. Vielmehr sind es die Probleme, die eine dreißigjährige Praxis der Zwangsumsiedlung und Vertreibung unter deutschen und sowjetischen Vorzeichen — begleitet von westlichem Appeasement — geschaffen haben. Eben diese Politik gilt es zu revidieren. Selbstverständlich darf dies zu keinem neuen Unrecht führen. Mit anderen Worten: Die autonome deutsche Wolga-Republik ist nur dann gut, wenn die Rechte jedes einzelnen dort lebenden Russen gewahrt werden. Vor allem aber muß jeder neue Ansatz zur Vertreibung und Entrechtung nationaler oder religiöser Minderheiten mit allen Mitteln der internationalen Völkergemeinschaft geahndet und verhindert werden. Götz Aly