PORTRAIT: Ein Intellektueller und Internationalist wird Japans Nummer eins
■ Nippons neuer Premier gibt seinem Land ein fortschrittliches Gesicht/ Als Finanzminister richtete er sich nach den Interessen der Großkonzerne
Ein Intellektueller und selbsterklärter Internationalist als Japans Regierungschef? Tatsächlich. Gestern wählten Parlamentsabgeordnete und Bezirkssekretäre der liberal-demokratischen Regierungspartei (LDP) den ehemaligen Außen- und Finanzminister Kiichi Miyazawa zum neuen Vorsitzenden ihrer Partei. Demnach wird Miyazawa bei der nächsten Parlamentssitzung am 5.November den bisherigen Regierungschef Toshiki Kaifu ablösen. Für eine Wiederwahl fehlte Kaifu die Unterstützung der mächtigen LDP- Fraktionen im Parlament.
Kiichi Miyazawa könnte nun die westlichen Vorstellungen vom Erscheinungsbild japanischer Politiker revolutionieren. Die waren bei uns bislang vornehmlich für ihr beständiges Kopfnicken und Lächeln bekannt. Dagegen ist Kiichi Miyazawa ein Regierungschef, der nur darauf wartet, seine Argumente und Vorschläge der Welt darzubieten — damit sie Nippons Macht und Einfluß endlich erkenne.
Als der designierte japanische Regierungschef Anfang September seine Ansprüche auf das höchste Staatsamt untermauern wollte, lud er seine alten Freund und Amtskollegen aus den siebziger Jahren, Henry Kissinger, zu einer Podiumsdiskussion nach Tokio ein. Beide diskutierten dann die Weltpolitik in englisch vor dem staunenden japanischen Publikum. „Herr Miyazawa mag zwar Englisch sprechen“, ängstigte sich alsbald ein Parteimitglied. „Aber spricht er auch noch Japanisch?“ Wenn Kiichi Miyazawa nicht aufpaßt, dann könnte er zu Hause schnell in den Verdacht geraten, mehr dem Ausland als der eigenen Nation zu dienen.
Zumal Kiichi Miyazawa der Welt allerlei verspricht. Als ehemaliger Elitebürokrat des Finanzministeriums, dessen Wort in Tokioter Wirtschaftskreisen Gehör findet, hat er sich für niedrigere Zinsen in Japan ausgesprochen, die auch der Weltwirtschaft und den japanischen Importen zuträglich wären. Der kommende Premierminister verspricht außerdem größere finanzielle Hilfeleistungen für die UNO, die dritte Welt und die Sowjetunion. Nur in der leidigen Streitfrage, wann Japan endlich sein Importverbot für Reis aufhebt, hält sich Miyazawa jetzt bedeckt. Vor einem Jahr hatte er noch zu den Ersten in seiner Partei gezählt, die ein neues Zollsystem für den Reisimport befürworteten. Denn darauf drängen die USA. Spätestens wenn US-Präsident George Bush Ende November Japan besucht, müßte Kiichi Miyazawa anhand der Reisfrage Zeugnis ablegen, auf welcher Seite er in der japanischen Politik steht: auf der Seite derer, die Japan den Gesetzen der internationalen Gemeinschaft unterwerfen wollen, oder auf der Seite derer, die die Welt nach japanischem Maßstab regieren wollen. Daran nämlich scheiden sich die Geister in der LDP.
Möglich ist, daß Kiichi Miyazawa alles unternimmt, um eine Richtungsentscheidung zu vermeiden. Zwar ist der zukünftige Premier seinen Landsleuten seit Beginn der siebziger Jahre nicht nur als guter Familienvater, sondern auch als aufrichtiger Verfechter der japanischen Friedensverfassung und unerschütterlicher Advokat der internationalen Integration Japans wohlbekannt. Doch zeigte Miyazawa gerade in letzter Zeit einen immer größeren Hang zum Opportunismus. Als er vor zwei Jahren eine ungewollte Hauptrolle im Börsenskandal um Insidergeschäfte der Firma Recruit-Cosmos spielte, erklärte Miyazawa: „Kein Kommentar heißt kein Kommentar“, und verfolgte ungestört seine politische Karriere. Obwohl Miyazawa stets beschwor, Japan dürfe nicht erneut eine „militärische Macht“ werden, setzte er sich in diesem Jahr für die verfassungsrechtlich fragwürdige Entsendung japanischer Truppen zu Blauhelm-Einsätzen ins Ausland ein.
Seine geringe Standfestigkeit stellte Miyazawa auch in seiner Amtszeit als Finanzminister von 1986 bis 1988 unter Beweis, als er auf Betreiben der Großkonzerne den Leitzins auf ein historisches Tief von 2,5 Prozent drückte und dort niedrighielt, um die Binnenwirtschaft anzukurbeln. Damit löste Miyazawa die Tokioter Aktien- und Landpreisinflation aus, unter deren Folgen — vor allem den horrenden Miet- und Bodenpreisen — viele Japaner noch heute leiden.
Kiichi Miyazawa wird Japan zwar ein neues, zeitgemäßeres Gesicht verleihen. Doch ob Intelligenz, Weltläufigkeit und Sprachvermögen eines Premierministers ausreichen, um die von Fraktionsinteressen diktierte Tokioter Politik zu verändern, bezweifeln in Japan viele. Von den 496 abgegebenen Stimmen des Wahlgremiums seiner Partei erhielt Miyazawa gestern nur 285, weit weniger als erwartet. Ein Zeichen dafür, daß die Kämpfe in der LDP zum Leidwesen des künftigen Premiers andauern. Georg Blume
Siehe auch Seite 19
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