Die Alternativkultur: Tot, aber lebendig

■ Elisabeth Bolda, langjährige Vorständlerin und seit zwei Jahren Mitarbeiterin des »Netzwerks«, über die Zukunft der Alternativbewegung/ Während Linke im Westen ihre Sinnkrise haben, fangen viele Projekte im Osten jetzt erst an

taz: Seit 13 Jahren trägt »Netzwerk« durch Spenden seiner Mitglieder dazu bei, daß Alternativprojekte mit Krediten und Zuschüssen auf die Beine kommen. Geht die Alternativökonomie zu Ende, wird das Netzwerk überflüssig?

Elisabeth Bolda: Ich denke, es hat sich viel verschoben. Vor 13 Jahren hatten Alternativprojekte große Schwierigkeiten, an Gelder oder Räume heranzukommen. Heute aber haben Kollektive keine Probleme mehr, Bankkredite zu bekommen. Insofern hat Netzwerk eine andere Funktion bekommen. Beispiel »Weglaufhaus«: Das sollte durch den Senat gefördert werden, aber wegen der neuen Sparpolitik war das nicht möglich, also wandten die Leute sich ans Netzwerk. Wenn neue Ideen ausprobiert werden und dafür noch keine Töpfe vorhanden sind, dann steht Netzwerk bereit. Seit zwei Jahren kommt der Osten hinzu. Dort haben viele Leute ihre Hoffnungen und Ideen über Jahre aufgespart und versuchen sie jetzt zu verwirklichen.

Im Osten herrscht Gründerzeit?

Ja. Und Nachholbedarf.

Hat die Alternativbewegung also eine Zukunft im Osten, während das Bild im Westen schon verblaßt ist?

Nein, man kann das nicht gleichsetzen. Die Ideen, die wir hatten, sind aus den gesellschaftlichen Problemen des Westens entwachsen. Man hatte den Anspruch, anders zu produzieren, und die stille Hoffnung, den Kapitalismus und die Gesellschaft zu unterwandern oder zu revolutionieren. Inzwischen hat sich herausgestellt, daß das nicht geht, auch mit tausend Projekten nicht. Aber als Wunschvorstellung tobt das bis heute in den Hinterköpfen der Leute und trägt auch dazu bei, daß sie so frustriert sind, weil sie sich an ihren eigenen Ansprüchen gescheitert glauben. Eine offene Auseinandersetzung über die mögliche oder unmögliche Realisierung dieser Hoffnungen fand nicht statt, als Ersatz wird jede Veränderung in der Innenstruktur als Aufgabe der alten Ideale gewertet.

Weil sich die Alternativökonomie vom Produkt über die Binnenstruktur bis zu den Erwartungen der Kunden normalisiert hat?

Ich weiß nicht, ob das so normal geworden ist. Umgekehrt aber hat die Alternativökonomie auf andere Wirtschaftsbereiche ausgestrahlt: Auch in normalen Industriefirmen arbeitet man heute viel mehr im Team zusammen als früher. Die Motivation der Arbeitnehmer ist überall ein großes Thema.

Die Alternativbewegung ist tot, es lebe die Alternativbewegung?

Ja, wir hatten unsere Wirkung nach außen. Wichtig ist aber auch, daß wir die Erkenntnis zulassen: Es gibt immer wieder neue Leute, die irgendwas neu aufbauen, die wieder ihre Ideen verwirklichen wollen. Denen sollte man die gleichen Experimentiermöglichkeiten zugestehen, die man für sich selbst in Anspruch genommen hat. Wir kümmern uns deshalb inzwischen mehr um Beratung als um Geldvergabe, vor allem bei den kleinen Dienstleistungsprojekten: Wie mache ich ein Kino auf, wie eine Sauna?

Hat euer Förderumfang im Vergleich zu früher abgenommen?

Nein, er ist gleich geblieben, obwohl wir weniger Mitglieder haben. Einfach deswegen, weil die Kredite immer brav zurückgezahlt werden.

Wie steht es denn mit der Vernetzung der Projekte im Osten?

Das ist ein interessanter Unterschied. Im Westen gab es untereinander immer sehr starke Abgrenzungen. Es gibt zwar Zusammenschlüsse von Fahrradläden oder Tischlern und so weiter, aber in sehr lockerer Form und vorsichtig und auch durchaus kleinbürgerlich auf die eigene Insel fixiert. Im Osten aber wird sehr viel weniger ausgegrenzt. Vielleicht auch wegen der dortigen Erfahrungen mit der staatlichen Ausgrenzungspolitik. Sie lassen also ganz viel zu, für unseren Geschmack zu viel. Wir würden uns sehr schnell distanzieren und häufig sagen: Das sprengt unseren politischen Rahmen. Die aber sagen: ist doch wunderbar, wenn die mitmachen. Zum Beispiel bei den Antifa-Gruppen: Da wird ganz breit diskutiert vom Antifa-Selbstschutz bis zum Schutzbündnis mit der Polizei. Das diskutier mal im Westen — das ist kaum möglich. Da stelle ich mir in Zukunft spannende Diskussionen vor.

Es gab doch mal die Hoffnung, ein gemeinsames Netzwerk für West und Ost zu errichten.

Dafür waren die Unterschiede einfach zu groß. »Förderband« beispielsweise ist ein Zusammenschluß von Projekten mit dem Schwerpunkt Kultur, die sich gegenseitig unterstützen. Das in einen Pott zu schmeißen, das geht gar nicht.

Und warum nicht?

Die Ostler haben einen völlig anderen Kulturbegriff: Kreativität ist politisch, und das Leben ohne Kultur ist für sie stalinistisch. Wir aber haben immer gesagt: Wir fördern keine Filme, kein Theater, keine Bücher. Auch weil es dafür andere Einrichtungen gibt. Das heißt: Wir machen eine klare Trennung zwischen Kultur und Politik. Dann ist es auch vernünftiger, diese verschiedenen Traditionen nebeneinander stehenzulassen.

Aber, mit Verlaub: Von dieser Definition von Kultur kann der Westen doch sehr viel lernen.

Ja, natürlich.

Wie viele Mitglieder habt ihr gegenwärtig und wie viele Projekte unterstützt ihr?

Wir vergeben pro Jahr zwischen 270.000 und 300.000 Mark an rund 70 Projekte. Davon sind 20 bis 30 aus dem Osten. Von unseren Mitgliedern hingegen stammen nur drei oder vier aus dem Osten. Insgesamt haben wir 1.650 Mitglieder. Die meisten Projekte werden nur einmal gefördert. Aber auch gegen eine mehrmalige Förderung, zum Beispiel bei politischen Veranstaltungsreihen, ist nichts zu sagen. Was uns jedoch momentan viel mehr zu schaffen macht, ist der Sinnverlust, der viele im Rahmen der allgemeinen Krise der Linken ereilt. Das ist nicht verwunderlich, aber traurig.

Doch, das ist schon verwunderlich. Denn was hat der in Verruf geratene Realsozialismus mit unseren anarchistisch angehauchten Modellen gesellschaftlicher Selbstverwaltung zu tun? So viel wie der Eisbär mit dem Jodeln.

Das ist richtig. Aber ich glaube einfach, daß wir mit unseren Modellen zu langsam sind und den gegenwärtig irrsinnig schnellen weltweiten Veränderungen immer nur hinterherhinken. Wenn du im Osten etwas erhalten willst, dann kannst du nicht einfach deine eigenen Vorstellungen drüberstülpen, dann kannst du nur abwarten. Aber damit hechelst du den anderen immer hinterher. Und das ergibt dieses Gefühl von Sinnlosigkeit. Vielleicht weil die kleinen Projekterfolge angesichts der großen gesellschaftlichen Probleme nicht so sichtbar sind. Aber ich finde, daß insgesamt zuwenig Mut gemacht wird. In den USA gab es mal eine Initiative zur Verbreitung von positiven Nachrichten. Ist doch keine schlechte Idee!

Wo hat sich Netzwerk selbst in den letzten Jahren geändert?

Wir haben seit dem Mauerfall den großen Umbruch. Zum einen hat das der Sinnhaftigkeit einen anderen Drall gegeben: Im Osten fragt keiner nach dem Sinn von ABM-Stellen, es ist ein Luxus, darüber nachzudenken. Zum anderen haben wir gemerkt, daß unsere Bandbreite von Förderung in der Öffentlichkeit nicht mehr zu vermitteln ist. Wir müssen also Schwerpunkte setzen. Wenn du 70 Projekten im Jahr kleine Summen gibst, hier für ein Knastkonzert 2.000 Mark, dort für ein Veranstaltungsplakat 1.000, dann geht das unter. Aber wenn wir aufrufen: Dieses Thema, zum Beispiel Haß gegen Ausländer, ist wichtig, dazu wollen wir noch viel mehr machen, dann erreichen wir mehr Öffentlichkeit und mehr Spender.

Ihr müßtet die Agentur zur Verbreitung positiver Nachrichten selbst initiieren.

Stimmt. Es ist eigentlich auch ein positives Gefühl, in solch einem Büro wie dem von Netzwerk zu sitzen und zu sehen: Wenn irgendwas Beschissenes in der Stadt passiert, wie jetzt mit den Ausländern, dann entstehen sofort und überall Initiativen. Wir kriegen das ja immer über die bei uns einlaufenden Unterstützungsanträge mit.

Haben in den letzten Jahren verstärkt Projekte zugemacht?

Nein, nur ganz vereinzelt.

Also ist die von den Linken empfundene Krise mehr ideologisch denn materiell?

Für viele ist sie nicht mal ideologisch. Das ist diese Doktorgeschichte: Man geht nur zum Arzt, wenn man krank ist, insofern hat der Arzt immer das Gefühl, alle Leute sind krank. Und wir hören auch immer nur von den Kollektiven, die Probleme haben. Und dabei gibt es so viele, die ganz normal arbeiten, zum Teil seit Jahrzehnten.

Die Alternativbewegung ist also nicht am Ende?

Nein. Man kann für sich selbst ein Ende postulieren, aber dann muß man akzeptieren, daß die anderen weitermachen. Es hat sich einfach eine Menge verändert, und es täte uns gut, noch mehr zu verändern, von ideologisch überfrachteten Ansprüchen Abschied zu nehmen. Es ist affig, den Anspruch zu haben, daß alle Leute den gleichen Lohn kriegen und daß gleichzeitig Berufsanfänger ohne Ausbildung einsteigen können, und sich dann zu wundern, daß man nicht auf den üblichen Durchschnittslohn kommt. Wie viele Leute haben bei »Agit« ihre Druckerausbildung gemacht! Aber dann darf man nicht über den Lohn jammern.

Früher haben wir ja immer vertreten: Weil wir anders arbeiten, setzen wir mehr Kreativität frei, es gibt weniger Reibungsverluste. Kann man das so aufrechterhalten?

Nein. Ich glaube zwar immer noch, daß wir kreativer arbeiten. Aber das zahlt sich halt nicht unbedingt in barer Münze aus. Denn Massenproduktion ist immer noch das, was Geld macht, und nicht Kreativität. Kreativität ist teuer, die kann sich nicht jeder leisten. Dennoch hat eindeutig ein Umdenken in vielen Bereichen stattgefunden. Ich komme ja aus dem sozialen Bereich, und die ganzen guten Ideen von Mädchenhaus über Weglaufhaus bis zu den Kinderläden haben ein großen Einfluß auf die Institutionen gehabt. Heute geht es doch gar nicht mehr ohne Jugendwohngemeinschaften. Und der Anstoß dazu kam von uns.

Das macht vielleicht auch das Gefühl der Sinnlosigkeit aus. Alles ist normal geworden, die Besonderheit ist verloren gegangen.

Ich glaube schon, gerade wenn ich den Osten betrachte, daß da wieder eine Generation nachkommt. Es ist einfach ein menschliches Bedürfnis, sich zu verwirklichen. Das Gespräch führten

Ute Scheub und Gerd Nowakowski