In den Nischen des Chaos

■ Die Sitzordnung in der Bundesbahn als letztes Refugium des Ungeordneten

Die Mathematik sagt: Das Universum ist chaotisch und fügt sich nur zeitweilig zu wankelmütigen Ordnungen zusammen. Was aber chaotisiert, und wer fügt? Ewig wuselt der Mensch, aber zum Glück fängt jetzt die die moderne Zivilisation schon an der Fleischertheke an: Kein Drängeln und kein „Ich war vor! „ mehr, sondern mit einem numerierten Märkchen in der Faust warten wir schweigend und schwitzend und wollen nur ja den erlösenden Moment nicht versäumen, wo wir drankommen.

Daran sieht man: Alle Elemente und was immer da kraucht auf Erden, item auch der Mensch, streben höheren Ordnungen zu. Und alles braucht seinen Platz im Leben, und sei es nur, per Platzkarte, der weiche Sitz im Zug der Bundesbahn.

Doch nun dies: Im Zweite-Klasse-Waggon des Nahverkehrszuges Bremen-Bremerhaven stößt die ahnungslose Reisende auf lauter Wirr und Warr statt Ordnung: Wer auf den Fensterplatz zur Linken — in Fahrtrichtung — zusteuert, findet sich auf Platz 15. Das Gegenüber, selbe Seite, erhielt fortlaufend Nummer 16. Für die Sitze am Gang aber gilt: 17 neben 15, 14 neben 16. Jeder kennt nun das Spielchen aus dem Intelligenztest: Ergänzen Sie folgende Zahlenreihe logisch... Ha, schon erkannt, die geraden in Fahrtrichtung, die ungeraden entgegen.

Also über Kreuz zählen, auf daß man seinen Platz finde, oder? Doch der triumphierende Blick in die benachbarte Vierer-Sitzgruppe jenseits des Ganges hinterläßt jähes Entsetzen: Die Fensterplätze, 11 und 12, wie gehabt, Gangseite Fahrtrichtung 13, gegenüber — 18! In Worten: achtzehn!! Ein schneller Blick, ob–s wohl ein Versehen...mitnichten, der ganze Waggon ist auf gleiche, unheimliche Weise erfaßt.

Zahlen, einfach so, entgegen allen Naturgesetzen, mitten in Deutschland...Während auf dem Nachbargleis der Intercity vorbeirauscht, bremst mit Ruckeln und Quietschen unser Nahverkehrszug, und sein Quietschen klingt hämisch im Ohr der Reisenden — es gibt sie doch noch, die kleinen Nischen des Chaos.

Susanne Kaiser