„Eigentlich heiße ich Peter...“

Als ich das erste Mal einen Deutschen traf, war ich gerade 12 Jahre alt. Es war 1970, und die Kinder in meinem Viertel in Guatemala-Stadt waren von der Vorstellung der brasilianischen Fußballnationalmannschaft begeistert. Wir hatten also eine Fußballmannschaft organisiert. Wir waren eine lächerliche Truppe abgemagerter dunkelhäutiger Kinder, mit mehr oder weniger langen Beinen, viel Knochen und Haut und weniger Muskeln. Wir alle wollten wie Pelé, Tostao, Rivelino Fußball spielen.

Na ja, fast alle von uns waren farbige Kinder und fast alle von uns wollten wie Brasilianer spielen; es gab ein Kind, das längere Beine als der Rest von uns hatte, blasse Haut und blonde Haare, und das wie Wolfgang Overath spielen wollte: „El Alemán“, der Deutsche. Das erste Mal als er auf unser Fußballfeld kam, fragte er uns verschämt und mit fast unhörbarer Stimme, ob er mit uns spielen dürfte. Natürlich, sagten wir. „Was spielst Du?“ Im Mittelfeld. „Wie heißt Du?“ Pedro.

„Dann, geh da rüber, und lauf viel!“ Pedro lief, als ob der Teufel hinter ihm her wäre, schneller und länger als der Rest von uns. Während wir zu dribbeln versuchten, und Tricks mit dem Ball machen wollten, bevorzugte er lange Pässe, und laufen, laufen, laufen. Und springen, springen, springen. Am Ende spielte er Manndecker.

An den ersten Tagen nannten wir ihn Pieter, wie auf Englisch. Mit einem Gemurmel korrigierte er uns: „Eigentlich, heiße ich Peter.“ Bald, dank ihm, wurde unsere Mannschaft in der Gegend berühmt; die Kinder anderer Gruppen nannten uns „das Team des Deutschen.“

Mit der Zeit, wurde Peter einer von uns. Trotz seiner weißen Haut und seiner blonden Haare und seines beindruckenden Rennens, und trotz unserer farbigen Haut und unserer schwarzen Haare und unserer unfruchtbaren Anstrengungen, wie Brasilianer Fußball zu spielen, war Peter ein Freund. Trotz seines Hauses, das ein Palast war, trotz der vier Autos, die vor der Tür seines Hauses standen, und auch obwohl er Spanisch mit einen komischen Akzent, war Peter einer von uns.

Peters Urgroßeltern sind vor 100 Jahren nach Guatemala gekommen, wie die meisten deutschen Einwanderer, die wegen Armut und Hoffnungslosigkeit Europa verlassen und in Amerika eine zweite Chance suchten und fanden — in den USA, in Brasilien, in Chile, in Bolivien, in Guatemala... Aber nicht nur deutsche Wirtschaftsflüchtlinge kamen nach Guatemala. In diesem Jahrhundert folgten politisch Verfolgte, Nazis oder ehemalige Soldaten, die den Zweiten Weltkrieg überlebt hatten.

Wie die meisten Einwanderer, die um 1880 nach Guatemala kamen, bekamen Peters Vorfahren Boden von der Regierung meines Landes, um Kaffee zu pflanzen. Die guatemaltekische Wirtschaft war bis 1870 abhängig von den Exporten natürlicher Farbstoffe für die eurpäische Textilindustrie. Die Erfindung künstlicher Farbstoffe bedeutete einen starken Rückschlag für diese Exportwirtschaft. Als Ersatz tauchten Kaffee und Baumwolle auf, und zwar in riesigen Plantagen unter der Kontrolle von Engländern und Deutschen.

Aber um Kaffee anzupflanzen, brauchte man anderen Boden als den, den man bisher für die Anpflanzung von Farbstoff-Pflanzen benutzt hatte. Der beste Boden für Kaffee ist das sog. Hochland in etwa 1.000 Meter Höhe. Um 1850 gehörte dieses Land in Guatemala Indianern. Als die Regierung den Kaffee endeckte, enteignete sie das Gemeindeland der Indianer und vertrieb sie, um später das Land den europäischen Einwanderern zu geben.

Peter war nicht der einzige reiche Deutschstämmige, den ich kennenlernte, dessen Reichtum vom Kaffee stammte. Jahre später, schon in der Universität, traf ich dutzende deutsche Nachkommen, manche Millionäre, deren Familien Kaffee und Baumwollplantagen besaßen. In meinen ersten Jahren in der Uni habe ich mich nie nach der Ursache des Reichtums der „Deutschen“ gefragt. Erst als ich Journalist war, wurde diese Tatsache für mich problematisch. Schließlich, sind die Großgrundbesitzer Millionäre, seien sie „Deutsche“ oder nicht, weil in ihren riesigen Fincas Indianer Kaffee und Baumwolle gegen Hungerlöhne säen und ernten; sie sind Millionäre, weil sie kein Steuer bezahlen... Die Liste der Erklärungen ihres Reichtums kann beliebig verlängert werden.

Noch problematischer ist die Frage nach der Rolle, die die „Deutschen“ in der grausamen politischen Geschichte meines Landes gespielt haben. Die Landbesitzer waren ja diejenigen, die in Zusammenarbeit mit der Armee und der Regierung der Vereinigten Staaten die Todesschwadrone in Guatemala einsetzten: rechtsradikale Mörderbanden, die oppositionelle Politiker hinrichten und Gewerkschafts- und Bauernführer, Studenten, Intelektuelle, Journalisten...

Mit der Pinochetdiktatur in Chile und der niederträchtigen deutschen „Colonia Dignidad“, wurden die Zweifel über die Rolle der „Deutschen“ in Guatemala größer. Ist vielleicht Peter, mein „deutscher“ Freund der Kindheit, der Sohn einer Familie, die mitverantwortlich ist für Mord und Folter und politische Verfolgung meiner Landsleute?

Vor zwei Wochen, kam einer meiner „deutschen“ Freunde nach Bremen, mich zu besuchen. Er lebt jetzt in Hannover, und träumt davon, eines Tages nach Guatemala zurückzukehren. Wir plauderten über die Zukunft Mittelamerikas, über die Intoleranz die dort herrscht. Am Ende seines Besuchs fragte ich ihn, was er von der jetzige Hysterie gegen Ausländer in Deutschland halte. „Es ist beschämend“, murmelte er. Schon vor der Tür fragte ich ihn wieder, wie er sich fühle. „Bist Du Deutscher oder Guatemalteke...?“ Mit glasigen Augen antwortete er: „Guatemalteke mit deutschen Wurzeln.“ Dann unarmten wir uns. Julio Godoy