Wien - Berlin - Budapest

■ Bis zum Fall der Mauer waren sie die geheimen Hauptstädte des ehemaligen Ostblocks. Heute brauchen Ungarn, Polen und Tschechoslowaken keine nostalgischen Traumschlösser mehr, sondern eine starke kulturelle...

Bis zum Fall der Mauer waren sie die geheimen Hauptstädte des ehemaligen Ostblocks. Heute brauchen Ungarn, Polen

und Tschechoslowaken keine nostalgischen Traumschlösser mehr, sondern eine starke kulturelle Verflechtung mit dem übrigen Europa. VON GYÖRGY DALOS

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ls surrealistischen Käfig bezeichnete György Ligeti die Stadt West-Berlin und meinte damit, frei seien diejenigen, die innerhalb dieses Käfigs wohnten. Dank der Bemühungen des Berliner Künstlerprogramms konnten in den siebziger und achtziger Jahren zahlreiche Osteuropäer von Zeit zu Zeit im eingemauerten West-Berlin frei leben und schaffen. So weilten Miklós Mészöly, György Konrád, Péter Nádas, Péter Esterházy, István Eörsi, György Petri, László Krasznahorkai und László Földényi, um nur einige meiner ungarischen Landsleute zu erwähnen, je ein Jahr in Berlin. Das Ergebnis dieser Zeit läßt sich heute noch an ihren Werken ablesen. Berlin war damals wie keine andere europäische Metropole Treffpunkt zwischen Ost und West: eine geheime Hauptstadt der Osteuropäer. Wien spielte eine ähnliche Rolle, wenn auch in geringerem Maße. Die ehemalige Kaiserstadt war, rein geographisch gesehen, für Ungarn, Tschechoslowaken und Serbokroaten leichter erreichbar und angesichts ihres K.u.k.-Designs eher dazu geeignet, die Illusion einer geheimen Hauptstadt zu erwecken. Was Wien jedoch fehlte, war Berlins Hauptelement: die Mauer. Hätte eine derartige Grenzbefestigung bespielsweise die Kärntner- von der Praterstraße getrennt, und hätte es eine ÖDR und eine BRÖ gegeben, so würden die Ost-Wiener aus der sowjetisch dominierten Leopoldstadt sehnsüchtig das Programm des West-ORF sehen, und das Leben in West-Wien hätte sofort einen Hauch von Abenteurertum erhalten.

Einmaliges Milieu

West-Berlin war als Aufenthaltsort für osteuropäische Künstler gewissermaßen illegal, und ihr Treiben in dieser Stadt galt in den Augen der DDR-Regierung als höchst unerwünscht. Der immer grotesker werdende Kalte Krieg, die Studentenbewegung und eine überdurchschnittliche Zuwanderung von Menschen unterschiedlichster Couleurs hatten in Berlin ein für ganz Deutschland einmaliges Milieu entstehen lassen. Es waren vor allem die Ausländer, die das Leben auf dieser weltpolitischen Insel stark mitgeprägt hatten. Viele der Einheimischen waren sich darüber im klaren, wie eine Mauerinschrift in Kreuzberg bezeugte: „Ausländer! Laßt uns mit den Deutschen nicht allein!“

Wien übte schon früher eine Faszination auf die Länder hinter dem Eisernen Vorhang aus. Besonders Ungarn erblickten als erste regelmäßige Westreisende aus dem Bereich des Warschauer Pakts in der Kaiserstadt eine exotische Ähnlichkeit mit Budapest. Diese Anziehungskraft war eher merkantiler Art, inbesondere nach dem Januar 1988, als das freie Paßsystem eingeführt wurde und der Ansturm der Magyaren auf die Mariahilferstraße einsetzte. Der Masseneinkauf ist inzwischen aufgrund derselben sozialen und ökonomischen Schwierigkeiten zurückgegangen, die sich letztlich als Hindernis der gemeinsamen Weltausstellung erwiesen haben.

Neben Berlin und Wien verfügten in den letzten Jahrzehnten vor allem die DDR-Bürger, die Polen und die Tschechoslowaken über eine dritte geheime Hauptstadt: Budapest. Ebenso wie das bessere ungarische Warenangebot die durchschnittlichen Touristen aus den anderen Ostblockländern faszinierten, zog das relativ liberale Klima die Intellektuellen des „real existierenden Sozialismus“ an. Viele von ihnen hatten ohnehin keine andere Wahl, beschränkte sich doch das Ausland, etwa für die DDR-Bürger, praktisch auf ein paar Nachbarstaaten. Es gab sogar Momente, in denen Budapest die innereuropäischen Spannungen zu überbrücken schien: So durften bei dem Kulturellen Forum im Herbst 1985 Exilautoren wie Pavel Kohout, Jiri Grusa und Reiner Kunze ungehindert nach Ungarn einreisen. Die offizielle Kulturpolitik tolerierte— wenn auch mit kaum überhörbarem Zähneknirschen — eine Gegenveranstaltung der kritischen Intelligenz, die allerdings nur in Privatwohnungen stattfinden durfte.

Gemeinsame Wurzeln

Die Mitteleuropa-Debatte der achtziger Jahre war für viele Beteiligte eine Stellvertreterschlacht: Sowohl die östlichen wie auch die westlichen Diskussionspartner versuchten, unter diesem Thema die Grenzen der beiden Kontinentalhälften zumindest spirituell aufzuweichen, indem sie ihren gemeinsamen Wurzeln näherkamen. In den Jahren nach der Stationierung der Mittelstreckenraketen und der sowjetischen Invasion in Afghanistan klang das Gespräch über den versunkenen Kontinent als direkte Herausforderung an alle Verfechter des Status quo. Mutig, ja frech, wurde von György Konrád der Name eines sowjetischen Badeorts in die Debatte geworfen: Seine Forderung nach einer Umstrukturierung der ganzen Ordnung von Jalta hielten die meisten Zuhörer für eine reine Utopie.

Mit der tatsächlichen Aufhebung der Ost-West-Grenzen mag manchem die ganze radikale Fragestellung von damals als gegenstandslos erscheinen. An die Stelle des Warschauer Paktes ist eine Reihe unabhängiger Staaten getreten, von denen jeder über eine eigenständige Tradition und ein entsprechendes Nationalbewußtsein verfügt. Eine Anlehnung an mitteleuropäische Hilfskonstruktionen scheint sich erübrigt zu haben. Statt imaginärer Hauptstädte für intellektuelle Abenteurer haben wir mit unseren eigenen von Smogs heimgesuchten, dafür aber real existierenden Heimatorten zu tun. Entsprechend veränderte sich in den letzten Jahren die Perspektive der geheimen Metropolen. Die beginnende Verschmelzung der beiden deutschen Hauptstädte nimmt West-Berlin ausgerechnet jene Faszination, die ihre Wirkung weder auf Filmemacher noch auf Schwarzmarkthändler verfehlt hatte. Ligetis Metapher — jener „surrealistische Käfig“ — hatte mit dem 9. November 1989 ihre Gültigkeit verloren — oder erstreckte sich vielmehr auf die ganze freie und frei gewordene Welt.

Man könnte meinen, damit sei die Konkurrenz für Wien aus der Welt geschafft. Schließlich erinnert die jetzige Konstellation manchmal gespenstisch an die guten alten Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg. Der zerrütteten Welt fehlt tatsächlich ein archimedischer Punkt. Warum nicht Wien? Es wäre etwas demagogisch, in diesem Zusammenhang auf das Fehlen eines Sigmund Freud oder Karl Kraus hinweisen zu wollen. Ich möchte hier nur anmerken, daß es in der derzeitigen kulturellen und politischen Atmosphäre Österreichs kaum etwas Reizvolles für einen Austausch breiteren Ausmaßes gibt. Für einen Wiederaufbau der mitteleuropäischen Bühne fehlen weniger die Akteure als das Publikum.

Ebensowenig kann Budapest seine frühere Rolle als kleines Leuchttürmchen der Ostblockzivilisation fortsetzen. Trotz der relativen Offenheit der achtziger Jahre traf die Öffnung die ungarische Gesellschaft unvorbereitet. Die Kulturschaffenden ringen in ihrer neugewonnenen Freiheit mit Überlebenssorgen und Identitätskrisen. Ihre Rolle als Spitzenreiter, die sie in ihrem Umfeld hatten, genießen die Ungarn schon lange nicht mehr.

Neue Trennlinien

Die Hilfskonstruktion Mitteleuropas trug seinerzeit dazu bei, den ideologisch geprägten Ost-West-Antagonismus zu überwinden. Seit dem historischen Jahr 1989 zeichnet sich immer deutlicher eine neue Trennlinie ab, diesmal innerhalb des ehemaligen sozialistischen Lagers: Sie verläuft zwischen Norden und Süden. In der anfänglichen Euphorie der Öffnung widmete die westliche Welt denjenigen Völkern zu wenig Aufmerksamkeit, die aus einem noch tieferen historischen Inferno als die Gefeierten kamen. Dabei läßt sich ein verantwortungsvolles mitteleuropäisches Denken ohne Einbeziehung der Balkan-Länder kaum vorstellen. Man kann nicht Polen, Tschechen und Ungarn feierlich in das Europäische Haus aufnehmen und gleichzeitig Serben und Albaner in den Sumpf des Nationalismus versinken lassen.

Was die Bürger der ehemaligen Ostblockländer jetzt brauchen, sind keine geheimen Hauptstädte, keine nostalgischen Traumschlösser. Sie brauchen eine starke und organische kulturelle Verflechtung mit dem übrigen Europa. Es besteht die Gefahr, daß sie einerseits ökonomisch als Absatzmärkte in den gesamteuropäischen Kreislauf integriert werden, andererseits geistig sich selbst überlassen und einem abgekapselten, provinziellen Dasein ausgeliefert bleiben.