Wenn wir Deutsch sprechen

■ Sprechen wir eigentlich die gleiche Sprache?

Die Autorin Ewa Boura schreibt, wie sie dazu gekommen ist, die Tagung »Vaterland — Muttersprache« mitzukonzipieren.

Für mich geht die Idee für diese Tagung sehr weit zurück. Und ich sage »sehr«, weil sich in den letzten zwei Jahren die Geschichte rasant entwickelt hat. Ich merke immer wieder, daß ich das Wort »früher« oft gebrauche, wenn ich über West-Berlin rede.

Ich weinte, als die Puschkinallee geöffnet wurde und wildfremde Menschen mit offenen Armen aufeinander zuliefen. Eine deutsche Kinderladen- Bekannte stand neben mir und schüttelte den Kopf, als sie mich weinen sah. »Wieso weinst Du denn?«, fragte sie mich und fand es witzig, daß »sogar ich« weinte.

Dann kam auch noch diese Bescheinigung vom Senator für Inneres. Ich mußte zum Waterloo-Ufer und mir eine Lichtbildbescheinigung holen, damit ich in die »befreiten Gebiete« konnte. Es war der 25. Januar 1990, und ich mußte sogar fünfzehn Mark bezahlen. Daß die Wiedervereinigung eine deutsche Sache war, merkte ich sehr bald!

Und die Frauen dieser Stadt und dieses Landes? Was hatten sie dazu zu sagen? Ich könnte jetzt so viel über meine neue Angst, in dieser/meiner Stadt mich zu bewegen erzählen, usw. usw. usw. Ich könnte auch über das Schweigen der Frauen erzählen.

Da gab es den Verein zur Förderung der Literatur von Frauen mit dem Vorsatz: »... wirkt für kontinuierliche Kommunikation und weiterführenden Austausch zwischen Autorinnen, Publikum und Wissenschaftlerinnen... neben der allgemeinen Förderung von Frauenliteratur legen wir besonderes Augenmerk auf den multikulturellen Aspekt weiblicher Literatur der Gegenwart und wir wünschen uns viele engagierte Mitgliederinnen verschiedenster nationaler und kultureller Identität«. Es waren kaum Autorinnen anderer nationaler Herkunft oder Farbe dabei. Ich hoffe immer noch, daß wir mehr werden!

Autorinnen unterschiedlicher nationaler und kultureller Herkunft und Farbe aus den alten und neuen Bundesländern werden also bei dieser Tagung die Gelegenheit finden, ihre Positionen als Frauen, deren künstlerisches Werkzeug und Kommunikationsmittel Sprache ist, unter dem Eindruck der jüngsten politischen und sozialen Ereignisse zu reflektieren. Warum, brauchen wir mittlerweile nicht zu sagen.

Diese Tagung soll durch Diskussionen zum Ausdruck bringen, wie Autorinnen sich in dem Spannungsfeld Identität, Alltag und künstlerisches Schaffen in ihrem Lebens- und Sprachraum »Deutschland« begreifen und erleben.

Eine der wichtigsten Fragen, die wir uns bei der Konzeption dieser Tagung vorgestellt hatten, war zum Beispiel: Was bedeutet es für Frauen anderer Nationalität, in Deutschland in der Fremde zu leben und als Schriftstellerinnen der eigenen Sprache beraubt zu arbeiten? Welche Auswirkungen haben die neuen politischen Entwicklungen auf ihr Schreiben und ihre Kommunikation mit anderen Autorinnen und mit der Öffentlichkeit? Beraubt? Ja, beraubt. Denn, sind wir letztendlich nicht durch diese aufgestülpte »Wiedervereinigungssache« auch unter anderem unserer Sprache beraubt worden? Sprache? Sprechen wir denn eigentlich die gleiche Sprache?

Die Tagung Vaterland — Muttersprache? findet statt vom 5. bis 8. Dezember im Literarischen Colloquium

Begleitende Lesungen: 12., 19., 26.11, jeweils 20 Uhr im Brechtzentrum; 6.12, 20 Uhr Literarisches Colloqium, 7.12., 20 Uhr, Literaturhaus, 8.12. 11-13 Uhr, Podiumsdiskussion mit Ergebnissen im Haus der Kulturen der Welt