piwik no script img

„Der Sozialismus hat jetzt erst recht eine Chance“

■ Die Voraussetzungen des Demokratischen Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie: Harry Ristock über das neue Buch des „Revisionisten“ Horst Heimann. Hat Heimann eventuell seinen Marx nicht genügend studiert?

Es verdient hohe Anerkennung, in dieser Zeit ein Buch über den demokratischen Sozialismus zu schreiben. In einer Zeit, in der Konservative aller Schattierungen in Ost und West den Sozialismus für gescheitert erklären, begründet Horst Heimann die Notwendigkeit der weiteren Existenz des demokratischen Sozialismus. Er analysiert auch die Haltung eines Teils der Bundeslinken in ihrem Verhältnis zum sogenannten „realen Sozialismus“. Er tut es scharf, aber richtig.

Hierzu ein Einschub, um den Standpunkt des Betrachters zu diesem Buch zu skizzieren. Seit 45 Jahren sehe ich mich als einen Marxisten luxemburgischer Prägung. Aus dieser Sicht ist der Marxismus-Leninismus nur die ideologische Hülle für eine mörderische, totalitäre, antisozialistische Herrschaft Stalins.

Hier sei angemerkt: Wofür hat die Heilslehre des Christentums nicht alles herhalten müssen — spanische Inquisition, Frauenverbrennungen, Segnung der Waffen in allen Kriegen und auf allen Seiten. Wer als konservativer Kommunist aus der ehemaligen DDR das mit der Wende gescheiterte System als sozialistisch ansah, heute erklärt, getreu seiner Denkkategorien, daß der Sozialismus tot sei — seiner, was er dafür hielt, ist in der Tat und zu Recht tot.

Sprachlose westeuropäische Linke

Einige der Linken Westeuropas haben, wie Heimann feststellt, einen Teil ihrer politischen Hoffnungen mit dem „real existierenden Sozialismus“ verbunden. Sein Scheitern machte sie sprachlos. Fürwahr, wer Jahre und Jahrzehnte fast gläubig, zu unkritisch bis anbiedernd den östlichen Kommunismus für akzeptabel hielt, für den brach die Welt zusammen. Aus einem Akzeptieren eines zuerst totalitären, dann autoritären, quasi staatskapitalistischen Systems ist das „Überlaufen“ in den „reinen“ Kapitalismus für einige ohne weitere Denkanstrengung logisch.

Horst Heimann zeichnet die Geschichte der Sozialdemokratie an Hand der Parteitage von Erfurt bis Berlin. Er zeigt kritisch die inhaltlichen Festlegungen auf und entwirft dazu eine Darstellung der praktischen Politik der SPD in diesen 100 Jahren. Er macht die Differenz zwischen dem radikalen Vokabular einiger Parteitage und der reformistischen Praxis deutlich.

Für Horst Heimann sind die Theorien Eduard Bernsteins die bestimmende Größe. So sehr ich Bernstein neben Rosa Luxemburg akzeptiere, scheint mir Heimanns Sicht ein wenig zu heroisierend. Der Streit über Weg und Ziel ist für mich ein an sich nutzloser — beide sind wichtig. Zu erwähnen ist, daß Eduard Bernstein, von den Konsequenzen der Politik der Mehrheit der SPD betroffen, in der Mitte des Ersten Weltkriegs zur USPD übertritt.

Das Verhältnis Heimanns zu Karl Marx ist zwiespältig. Einerseits würdigt er dessen Bedeutung als Gesellschaftswissenschaftler, Humanist, Persönlichkeit, andererseits bringt er Marx wegen seines ökonomischen Determinismus in die Nähe des Wegvorbereiters des Marxismus-Leninismus. Da liegen Welten vor.

Ein wenig muß ich Horst Heimann den Vorwurf machen, daß er den Marx nicht genügend studiert hat. Nach Marx ist die freie Assoziation freier Individuen erst nach dem vollendeten Prozeß der Entwicklung der Produktivkräfte möglich. Für Lenin sollte Rußland 1917 für einige Jahrzehnte revolutionäre Provinz sein. Mit Hilfe (angenommen) sozialistischer Staaten sollte die Periode der Akkumulation hinsichtlich ihrer schrecklichen Lasten für die Menschen abgemildert werden.

Es waren Fehlannahmen! Die Sowjetunion blieb allein. Es gab keine nennenswerte Industrie, es gab eine kaum ins Gewicht fallende Arbeiterschaft, und es gab kaum Elemente bürgerlicher Rechte, wie sie in Klassenkämpfen des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in West- und Mitteleuropa erkämpft worden waren. Lenin hielt die Macht, schuf die Kaderpartei, ebnete insofern Stalin den Weg zur Macht.

Im Gegensatz zu Horst Heimann bin ich in dieser Frage der Meinung: Marx ist der Begründer des demokratischen Sozialismus (demokratischer Sozialismus ist an sich schon tautologisch, doppelt gemoppelt, da Sozialismus nur demokratisch sein kann, oder er ist keiner).

Heimanns Satz, daß der wissenschaftliche Sozialismus eine Wurzel des Leninismus und daß er auch eine philosophische Grundlage für Lenins Konzept der Diktatur des Proletariats unter der Führung einer Partei sei, ist daher schlichtweg falsch. (Lieber Horst, lies nach, was Marx zu Parteien überhaupt sagt.)

Nun versöhnen wir uns wieder. Nehmen wir einige wichtige Zitate aus diesem Buch. Vorweg volle Zustimmung zu den Forderungen an die heutige Sozialdemokratie. Da der sogenannte „reale Sozialismus“ gescheitert ist, ist der demokratische Sozialismus befreit von den Einengungen, Verdächtigungen und Feindkampagnen der rechten Konservativen im Westen und im früheren Osten. Der Sozialismus hat jetzt erst recht eine Chance, mehr als eine Chance, er ist auch die Hoffnung für eine Weltgesellschaft, die derzeit noch dabei ist, die Grundlagen für Pflanzen, Tiere und Menschen zu zerstören.

„Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich“

Zitat Bernstein, Seite 54: „Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel zur Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus.“ Ein wichtiger Satz aus einem längeren Absatz Bernsteins: „So widerspruchsvoll es klingen mag, die Idee der Aufhebung der Selbstverantwortlichkeit ist durchaus antisozialistisch.“

Heimann zu Marx, Seite 67/68: „Bereits 1844 definierte Marx den Begriff ,radikal sein‘ als ,die Sache an der Wurzel fassen‘. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst. Ausgehend von der Voraussetzung, ,daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei‘, gelangte er zu dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ In diesem humanistisch- emanzipatorischen Sinne definierten Marx und Engels im Kommunistischen Manifest die angestrebte sozialistische Gesellschaft als „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“.

Abschließend: Wenn ein Revisionist Bernsteinscher Ausrichtung und ein Marxist luxemburgischer Prägung sich in den Konsequenzen dessen, was zur Aufrechterhaltung, der Wiederbelebung des demokratischen Sozialismus, einer konkreten Utopie treffen, so gibt das sicher Hoffnung. Harry Ristock

Horst Heimann: Die Voraussetzungen des Demokratischen Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie . Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 1991, DM 16,80.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen