Eiserne Einigkeit in sechshundert Metern Tiefe

Die ganze Stadt Hückelhoven bangt mit den Kumpeln um die Zukunft/ Zu den Arbeitsplätzen in der Zeche gibt es in der Region keine Alternative  ■ Von Bettina Markmeyer

Hückelhoven (taz) — „Hier ist gar nichts“, sagt Annemarie Wohlgemut mit einer ausladenden Handbewegung und meint damit keineswegs ihr altdeutsch eingerichtetes Wohnzimmer samt Graupapagei, Aquarium und Trockenblumen. Sie meint Arbeitsplätze: „Bis Aachen und Düsseldorf ist alles tote Hose.“

Annemarie Wohlgemut ist vierzig und Hausfrau. Sie wohnt in Myhl bei Hückelhoven, hat eine Tochter, weiß, wie man sein Geld zusammenhält und entschuldigt sich neuerdings für eine nicht vorhandene Unordnung in ihrem Heim: Sie sei einfach zuviel weg. Von früh um fünf bis in die Nacht hält Annemarie Wohlgemut mit anderen Frauen von der Fraueninitiative Mahnwache an Schacht 4 oder Schacht 5 der Zeche Sophia-Jacoba. Nach Hause kommt sie nur um zu essen, einzukaufen, mit Tochter Angela zu plauschen oder um frische Wäsche für ihren Mann zu holen. Berthold Wohlgemut, Schlosser und seit 22 Jahren auf Sophia-Jacoba, ist mit etwa dreihundert Kollegen seit Dienstag wieder unten, zum zweiten Unter-Tage-Streik der Bergleute von Hückelhoven.

Ein Streik, der weitergeht, obwohl Sophia-Jacoba dichtgemacht werden wird und die IG Bergbau am heutigen Montag nur noch einen möglichst späten Termin für die Schließung aushandeln kann. Hückelhoven steht unter Schock. Das Steinkohle-Bergwerk ist mit 4.200 Beschäftigten der größte Arbeitgeber im ländlichen, südwestlich des Ruhrgebiets an der Grenze zu Holland gelegenen Kreis Heinsberg. Job-Alternativen gibt es für die Bergleute nicht. Die spärlich vorhandene übrige Industrie kämpft mit Absatzschwierigkeiten, einige Textil- und Bekleidungsfabriken in den Nachbargemeinden haben Leute entlassen oder arbeiten kurz. Nächstes Jahr werden fast vierhundert Zivilangestellte durch die Aufgabe des nahegelegenen Nato-Flugplatzes Wildenrath überflüssig. Neuansiedlungen sind in der strukturschwachen Region äußerst schwierig.

Am Tresen stehen 76 Jahre Arbeit unter Tage

Wegen der „unterdurchschnittlichen Wirtschaftskraft des Kreises Heinsberg“ stellte das Wirtschaftsforschungsinstitut „prognos“ in einem Gutachten aus dem letzten Jahr fest, habe „die Sicherung des Fortbestandes von Sophia-Jacoba existentielle Bedeutung“.

Hückelhoven trifft die Zechenschließung am schwersten. Diese Stadt, in der 1916 eine 30-Mann-Belegschaft auf Sophia-Jacoba erstmals gut dreitausend Tonnen Kohle förderte, ist noch immer ganz Bergwerks-Stadt. Halden und Zechensiedlungen prägen ihr Bild, das Stadion heißt natürlich „Glück auf“- Stadion, die Rathauswand ziert ein Relief mit Kumpeln und Fördertürmen, drinnen steht eine Lore und die Hauptkirche ist der heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute, geweiht. Und wenn sich abends fünf ältere Männer beim Wirt der Kneipe „Zum Spieß“ in Hückelhoven- Schaufenberg zum Bier treffen, bringen sie zusammen 76 Jahre Arbeit unter Tage an den Tresen und räsonnieren darüber, was aus ihren Zechenhäuschen wird, wenn das Bergwerk dichtmacht.

2.600 Beschäftigte der Zeche wohnen in der 35.000-EinwohnerInnen-Stadt Hückelhoven, die übrigen verteilen sich auf die angrenzende Gemeinde Wassenberg, die Kreisstadt Heinsberg und auf Erkelenz. Achtzig Prozent der HückelhovenerInnen sind direkt oder indirekt von Sophia-Jacoba abhängig. Jacoba- Betriebsrat Manfred Küsters präsentiert gern folgende eindrucksvolle Zahl: die Kaufkraft durch die Löhne der Zeche beläuft sich auf 200 Millionen Mark im Jahr. Zu 90 Prozent wird dieses Geld im Kreis Heinsberg ausgegeben. Kein Wunder also, daß ganz Hückelhoven seine Kumpel unterstützt, überall die gelben Protestplakate stehen, daß Kaufleute und Kirchengemeinden den Streikenden Freßpakete nach unten schicken, daß die örtliche Werbegemeinschaft beim Kanzler protestiert und der Alt- Bürgermeister und Ex-Kumpel Paul Ginuttis dafür betet, Minister Möllemann möge seine Haltung ändern.

Schon sieht auch Annemarie Wohlgemut ein verödetes Hückelhoven vor ihrem geistigen Auge. Als hätte sie's geahnt, hat sie, die aus Myhl stammt, „nie gewollt, daß mein Mann auf Zeche ging“. Aber ihr Mann ging doch, um mehr zu verdienen. Und sie wurde in den 22 Jahren eine richtige Bergmannsfrau, „immer mit mein' Angst, eines Tages bringen die den mal tot raus.“ Bertholds Vater war auch Bergmann, wie alle Neu-Hückelhovener kam er mit seiner Frau in die Stadt, weil Jacoba in den fünfziger Jahren bundesweit um Bergleute warb. Annemarie und Berthold verlobten sich, verschuldeten sich für ein Grundstück und nach der Hochzeit noch mehr für ihr Haus. Zeitweise ging auch sie halbtags arbeiten. Allen Urlaub verbrachten sie aus Sparsamkeit zuhause, nur letztes Jahr gönnten sie sich eine Woche Sauerland. Sie zahlten ab und zahlen ab; noch immer wirtschaftet Annemarie mit 1.000 Mark oder weniger für drei Personen, und niemals würde sie „einen Pullover für 150 Mark kaufen, und wär der noch so schön.“

Wofür hab ich gearbeitet wie'n Bekloppter?

Etwa die Hälfte der Jacoba-Belegschaft hat Häuser gebaut oder gekauft, die Raten liegen für die Familien an der Obergrenze des Machbaren. „Wenn hier Schluß is', isses aus mit der Hütte“, vermutet Achim Matthies, von Beruf eigentlich Koch, aber seit 14 Jahren unter Tage. Der Mann mit dem Vollbart gehört zu den etwa 150 Streikenden auf Schacht 5 in 600 Meter Tiefe, die mindestens bis zum heutigen Montag ausharren wollen. Die Stimmung ist nicht gut. Seit die Schließung von Jacoba beschlossen ist, denken die Männer, die unweit des Schachts in einem Seitengang in zwei langen Reihen auf Decken und Bohlen lagern, laut über ihre Aussichten nach: Wohin denn umziehen? Wem das Haus verkaufen in einer Gegend, in der es keine Arbeit gibt? Also bleiben? Am schlimmsten sind die Schulden, die hohen Raten, die Angst vor finanziellem und sozialem Ruin: „Dann hängen wir hier als Penner 'rum!“ — „Wofür“, faßt Matthies die Ängste und kaum verhaltene Wut zusammen, „haste gearbeitet wie ein Bekloppter?“

„Nur Barbaren“, qualifizierte IGBE-Chef Hans Berger kürzlich diesen zweiten Sitzstreik unter Tage ab, „nur Barbaren kämpfen bis zum letzten Mann“. Sophia-Jacoba sei nicht zu halten, wichtiger sei es nun, „unseren Kampf auf Dinge zu konzentrieren, die wir gewinnen können“. Doch ein Protest, der für mehr Aufmerksamkeit in Sachen Kohle sorgt als jede IGBE-Demo und der dazu von Existenzangst genährt wird, läßt sich nicht einfach ausknipsen wie eine Grubenlampe. In Hückelhoven fallen zu Hunderten wohldurchdachte Zukunftspläne in sich zusammen. Natürlich, mancher wird leichten Herzens woanders eine neue Stelle suchen, andere werden gut mit der frühen Rente zurechtkommen. Doch da ist auch jene, nicht eben kleine Gruppe von Bergleuten und ihren Familien, deren Leben so eng mit der Zeche verflochten ist wie die Zeche mit der Stadt Hückelhoven.

Auch Annemarie Wohlgemut hat ihr Leben im Rhythmus ihres Schicht arbeitenden Mannes gelebt: „Wenn er kommt, steht dat Essen auf'm Tisch.“ Sie hat gespart und abbezahlt, sich eingeschränkt und selbst „zum Spazierengehen war der Mann dann oft zu kaputt, wenn er von der Arbeit kam.“ Trotzdem, schon nach drei Wochen Urlaub, in denen sich Berthold am Haus betätigte, „fehlte irgendwie wat. Ehrlich gesagt, die Männer gingen einem auf den Keks, wenn die immer zuhause 'rumhängen würden.“ Diese Aussicht und die Geldsorgen treiben sie jetzt zum Protest und auch, daß so ein Leben zwischen Zeche und Häuschen nicht umsonst gewesen sein darf. Nie zuvor hat sich die Vierzigjährige so engagiert, und selten hat sie so intensiv gelebt wie in den letzten Wochen. Als ihre Männer nach dem ersten Unter-Tage-Streik im Oktober wieder ausfuhren, hat Annemarie Wohlgemut mit den anderen Frauen von der Mahnwache „geheult“ und Rosen an die erschöpften Kumpel verteilt. „Daß dat jetzt son' Einigkeit ist“, sagt sie, und in ihren braunen Augen stehen wieder Tränen, „dat kann einer von außen nicht empfinden. Da is' man ganz 'hin.“

Es wird schon dunkel, als Berthold von unter Tage anruft. „Ja, ich komm' gleich wieder“, sagt Annemarie Wohlgemut ins Telefon. „Ja, die Wäsche bring' ich mit“. Sie steht auf. „Halt' die Ohren steif, ja?!“ Sie legt auf, greift nach dem Wäschepacken, der auf dem Sessel liegt, dann nach dem orangenen Dreiecktuch der Fraueninitiative und streicht ihren grauen Rock glatt. „Ich konnte mir dat nie vorstellen“, meint sie nachdenklich, „daß dat mit der Zeche mal zuende sein kann“.