Hellas ohne Hoffnung auf bessere Zeit

■ Zehntausende wegen rasanter Preissteigerungen im Streik/ Staatsverschuldung erreicht Rekordmarke

Athen (dpa/taz) — Die schlechte Wirtschaftslage präsentiert den Griechen eine happige Rechung. Um bis zu 55 Prozent stiegen die Lebensmittelpreise im Oktober an — für Zehntausende der Grund, in der vergangenen Woche in einen Streik zu treten. Mangelnde Aussichten auf eine nahe wirtschaftliche Sanierung und der depremierende Bericht der EG-Kommission über die immer noch ausbleibenden Erfolge der griechischen Sparpolitik verbreiten immer mehr Hoffnungslosigkeit im Land. Die Situation hat sich vielerorts drastisch zugespitzt. Im attischen Lawrion beispielsweise müssen nach einer Reihe von Unternehmensschließungen bereits Lebensmittelrationen an die Bevölkerung verteilt werden. In vielen Teilen Griechenlands steigt die Arbeitslosigkeit rapide an und hat bis zu 38 Prozent erreicht. Wer noch Arbeit hat, darf auf Lohnerhöhungen von maximal vier Prozent hoffen. Das ist jedoch keinerlei Ausgleich für die hohe Inflationsrate, selbst wenn diese von 18 auf zwölf Prozent zurückgehen dürfte. Der Kaufkraftverlust der Griechen ist immens; mit einem Durchschnittseinkommen von monatlich 1.100 Mark reicht es kaum noch, die Familien zu ernähren. Die Mieten klettern von Monat zu Monat, ein Liter Milch kostet 1,65 Mark (180 Drachmen), ein Pfund Weißbrot eine Mark (110 Drachmen). Allein die Preise für Bier und Tee sind im vergangenen Monat um 32 Prozent gestiegen, die für Käse um 28 Prozent. Griechenland, das immer mehr den Anschluß verliert, droht zum EG-Schlußlicht zu werden. Nach 18 Monaten Herrschaft der Konservativen sind die Bilanzen nicht besser als unter der sozialistischen PASOK-Regierung. Die Wirtschaftskrise, die im Frühjahr 1990 ihren Höhepunkt erreicht hatte, ist keineswegs bereinigt. Ministerpräsident Konstantinos Mitsotakis, der vor seiner Wahl versprochen hatte, das Land aus Rezession und Staatsverschuldung zu führen, mußte im Frühjahr selbst sein Kabinett zur Disziplin ermahnen: Der Pemier warf seinen Ministern Laschheit bei der Realisierung der Wirtschaftspolitik, insbesondere bei der Privatisierung von Staatsbetrieben vor. Die öffentliche Verschuldung war in den letzten zehn Jahren um das 16fache gestiegen; Ende 1990 betrug das Defizit über 20 Prozent und die Staatsverschuldung gar 110 Prozent des Bruttosozialprodukts. Nach der Regierungsübernahme Mitsotakis war die Mehrheit der zehn Millionen Griechen noch zu Einschränkungen bereit, heute jeoch nicht mehr. Die Verschuldung im öffentlichen Bereich nimmt wider allen Versprechungen weiter zu; Prognosen zufolge wird sie bis Ende 1992 von heute rund 20 Milliarden auf insgesamt 34 Milliarden Mark steigen.

Die zur Beobachtung der griechischen Wirtschaftsentwicklung eingesetzte EG-Kommission hat bereits erklärt, Griechenlands Sparprogramm habe bislang wenig gebracht und müsse deshalb um ein Jahr bis Ende 1994 verlängert werden. Athen hat seine Ziele verfehlt: Zum Jahresende klafft ein Haushaltsloch von vier Millarden Mark, da die Ausgaben um rund 1,4 Milliarden Mark gestiegen sind. Die Steuerquellen fließen spärlicher, als von Finanzminister Palekrassas veranschlagt; die Privatisierung von Staatsbetrieben blieb in den Anfängen stecken. Die Arbeitnehmer und weite Kreise in der Gesellschaft zeigen keinerlei Interesse an der geplanten „Entstaatlichung“ von über 150 Institutionen und über 3.000 Anstalten öffentlichen Rechts. Die Generaldirektoren verharren auf ihren Posten; die betroffenen Beschäftigten wollen keine Abstriche hinnehmen. Hinzu kommt, daß die ehrgeizige Kampagne zur Bekämpfung der Korruption nicht richtig Tritt fassen kann. „Die Einnahmen des Staates sind nicht gestiegen, die Ausgaben nicht gesunken“, beschreibt ein griechischer Wirtschaftsexperte die Lage treffend. Die Regierung scheint nicht fähig, die Gelder zur Sanierung des Haushalts einzutreiben. Im Wirtschaftsministerium macht man äußere Faktoren wie den Golf-Krieg und die Jugoslawien-Krise für die desolate Situation verantwortlich. Das Land, weitgehend auf den Export von Textilien, Schuhen und landwirtschaftlichen Produkten angewiesen, mußte auch feststellen, daß seine Ausfuhrgüter auf dem EG- Markt sich keiner sonderlichen Beliebtheit erfreuen. Ein krasses Beispiel dafür stellt die staatliche Kranken- und Rentenkasse IKA dar. Sie ist überschuldet und kann kaum noch Renten ausbezahlen. Sogar das Athener Parlament schuldet der Kasse 22 Millionen Drachmen (rund 200.000 Mark), die öffentliche Verkehrsgesellschaft 8,5 Milliarden Drachmen (rund 77 Millionen Mark), die staatliche Fluggesellschaft Olympic Airways etwa den selben Betrag und das Wirtschaftsministerium 417 Millionen Drachmen. Zu den Schuldnern zählt noch eine Reihe anderer Behörden, Unternehmen und Privatleute.

Staatspräsident Konstantinos Karamanlis gibt zu, er sei verzweifelt, daß sich die Politiker in einer solch prekären Wirtschaftssituation mit zweitrangigen Dingen beschäftigten und offenbar den Ernst der Lage nicht erkennen wollten. Die PASOK kann sich freuen, denn ihrer Ansicht nach gleiche die konservative Wirtschaftspolitik einer Einbahnstraße, die auf ein Riff zusteuere. Erwin Single